laut.de-Kritik

LOL Soundsystem: Industrial-Pop mit vielen Gästen.

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Wer nach Los Angeles geht, so heißt es, wird entweder entdeckt oder zerstört. Lol Tolhurst wurde gerettet. Er kam vor nun auch schon 30 Jahren in Kalifornien an als gedemütigter Alkoholiker, seine Ehe und die Bandkarriere mit The Cure frisch in die Luft gejagt, und begann ein neues Leben. 2011 sah man ihn noch einmal im Zuge der "Reflections"-Konzerte (die ersten drei Cure-Alben in voller Länge) mit Robert Smiths Band auf der Bühne. Seine eigenen Projekte erreichten nie mehr größere Aufmerksamkeit.

"Los Angeles" erscheint nun zu einem Zeitpunkt, wo sich Tolhurst nach seinen Büchern "Cured" und "Goth: A History" gerade einen Namen als Archivar des eigens mitgegründeten Musikgenres gemacht hatte. Denn wozu sich mit 64 noch den Stress einer Albumaufnahme geben, wenn man damit am Ende womöglich das goldene Vermächtnis der Vergangenheit abfackelt? Fragt mal Robert Smith.

Die auf dem Papier äußerst seltsam klingende Kollabo Lol Tolhurst x Budgie x Jacknife Lee triggert bei Musikinteressierten unterschiedliche Wunschvorstellungen, die "Los Angeles" allesamt nicht erfüllt. Das ist wohl die größte Leistung dieser Platte, deren Musiker sich mit Subkulturen auskennen und für die Bobby Gillespie mutmaßlich die Zeile "It's hard to fit in when you feel so strange" gleich in den Opener "This Is What It Is (To Be Free)" hineinschrieb.

Schnell wird klar, dass das Trio vieles im Ungewissen belassen will. Wer denn nun in einer Band mit zwei ausgewiesenen Schlagzeug-Experten auf welchem Track spielt (oder programmiert), erfahren wir nicht. Der Cure- und der Siouxsie And The Banshees-Drummer teilen sich alles brüderlich, sogar das Keyboardspiel, was wiederum auch Jacknife Lee gut beherrscht, nur erfährt das in seinem Hauptjob als Produzent von Snow Patrol, U2 und Taylor Swift niemand. Von Vorteil war sicherlich sein großes Adressbuch, das sich in der Featureliste spiegelt.

Auf 13 Tracks zelebriert das Trio einen zumeist rastlosen Industrial-Pop, dessen musikalische Spannbreite von Nine Inch Nails bis Captain Beefheart reicht, was dann doch einigermaßen überrascht. Der erwähnte Primal Scream-Frontmann Gillespie prägt die orchestral angereicherte Hymne "This Is What It Is (To Be Free)" oder "Ghosted At Home" auch deshalb sehr, da der Sound nah an seiner eigenen Band operiert.

Das nervöse "Los Angeles" mit einem entsprechend hyperventilierenden James Murphy (LCD Soundsystem) geht als sehr anstrengende The Rapture-Reminiszenz durch, bevor "Uh Oh" die Strobo-Intensität erhöht. Eine perkussive Feedbackorgie wie ein Amphetaminrausch, wovon einige Beteiligte bekanntlich auch etwas verstehen, aber zur Sicherheit wurden noch Starcrawler-Furie Arrow de Wilde und Idles-Querulant Mark Bowen eingeladen, der hier überraschend prägnant eine Wurzelbehandlung nachvertont.

Lobend hervorheben muss man, dass Jacknife Lee für sein sängerloses Projekt nicht einfach Bono rankarrte, sondern The Edge, der zwei sehr gelungene Auftritte abliefert. Einmal auf dem massiv Neu! huldigenden Krautflower "Train With No Station", dessen Groove er nur akzentuiert und teilweise Töne aus seinem Instrument kitzelt, die an die Handy-Störgeräusche erinnern, wenn man zu nah an Lautsprecherboxen kommt. Auch der Vibraphon-Pop von "Noche Ocsura" ist ein neuer Soundrahmen für den irischen Superstar.

Auf "Bodies" wütet der 73-jährige Upcycling-Künstler und Autodidakt Lonnie Bradley Holley, dessen Lebensgeschichte als siebtes von 26 Kindern in Alabama beginnt und auch danach nicht langweilig wurde. Heute hat Holley selbst 15 Kinder und dürfte Tolhurst und Co. mit seinen dissonanten Soundscapes aufgefallen sein, die er seit rund zehn Jahren veröffentlicht. Ähnlich wie auf seinem Song "I Woke Up In A Fucked-Up America" verleiht er auch "Bodies" einen entsprechend schamanischen Charakter, dem sich eine After Hour-Halluzination à la Underworld anschließt. Die Kollabo mit Isaac Brook von Modest Mouse bleibt dagegen hinter den Erwartungen zurück.

Aus melodischer Sicht geht am Ende wohl Gillespie durchs Ziel, zumal er in "Country Of The Blind" schön garstig mit dem politischen Amerika und dem Zeitalter der Desinformation ins Gericht geht. Der Albumtitel wiederum lag auf der Hand, da jedes Mitglied eine eigene Geschichte mit der City Of Angels erlebt hat. Die Erdölpumpe auf dem pechschwarzen Cover ist da ein stimmiges Symbol - der Ölstaat Kalifornien hat gerade einige der weltgrößten Ölkonzerne wegen Umweltschäden in Milliardenhöhe und Irreführung verklagt.

Trackliste

  1. 1. This Is What It Is (To Be Free) (featuring Bobby Gillespie)
  2. 2. Los Angeles (featuring James Murphy)
  3. 3. Uh Oh (featuring Arrow de Wilde and Mark Bowen)
  4. 4. Ghosted At Home (featuring Bobby Gillespie)
  5. 5. Train With No Station (featuring The Edge)
  6. 6. Bodies (featuring Lonnie Holley and Mary Lattimore)
  7. 7. Everything And Nothing
  8. 8. Travel Channel (featuring Pam Amsterdam)
  9. 9. Country Of The Blind (featuring Bobby Gillespie)
  10. 10. The Past (Being Eaten)
  11. 11. We Got To Move (featuring Isaac Brock)
  12. 12. Noche Ocsura (featuring The Edge)
  13. 13. Skins (featuring James Murphy)

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