laut.de-Kritik

Gottverdammter Groove, Tränenströmer und Deluxe-Schnulzen.

Review von

Montreux 1980. Wer Jazz liebte, war dort. Und wer dort auftrat, der musste schon verdammt viel vorzuweisen haben. Dizzy Gillespie, Max Roach und Art Blakey gehörten 1980 zum Line-Up - und eben noch ein leicht aus dem Rahmen fallender, ungewöhnlicher Typ. Einer, der in ganz anderen Sphären musizierte. Einer, der den elitären Jazzern pure animalische und anti-intellektuelle Blutwallungen vermittelte. Marvin Gaye.

Die Aufnahmen entstanden, als es Marvin Gaye in seinem viel zu traurigen Leben wirklich nicht mehr gut ging. Als psychisches Wrack, geschieden, auf Drogen, verschuldet und mit Motown zerstritten war er nach Europa ausgewandert, wo er kurz vor seinem Tod noch ein paar Jahre die ihm angemessene Achtung erfuhr.

Das Bandintro startet mit ein paar einleitenden Takten von "Time To Get It Together", dem vielleicht fettesten und zugleich tragischsten Song des 1977er "Scheiß auf die Liebe"-Albums "Here My Dear". Dass es gottverdammt groovt, und dass sich die nächsten, knapp 100 Minuten dem anschließen werden, wird einem jeden mit Soul im Blut unmittelbar erleuchten. Und zwar ab Ende des ersten Taktes, der gespielt wird.

Mit "Got To Give It Up" folgt der Song, mit dem Gaye sich entschlossen hat, die Bühne zu entern. Der schwarze Mann mit nur unwesentlich weniger Blinkzeug am Anzug als Elvis beginnt stolz, die gesamte Spannbreite seines Organs vorzuführen. Von weichem, verletzlichen Säuseln bis hin zur sexy Attacke umgarnt er den Hörer mit seiner Stimme. "Sekrete müssen fließen" lautet die überschäumende Message, auch bei dem folgenden "A Funky Space Reincarnation". Und es hilft alles nichts, es muss getanzt, gehüpft und exaltiert mit den Armen geschlenkert werden.

Die volle Funkbesetzung der Musiker muss sich nicht mal mit ihren verspielten solistischen Exzessen zurückhalten, im Gegenteil. Fortwährend klingt durch, dass die Jungs gerade allesamt wahre Liebe mit ihren Instrumenten praktizieren. Sie verlieren keine Sekunde an Präsenz und erfreuen bei jedem Groovewechsel aufs Neue. Schweiß und Liebe wird gepredigt, und zu Letztgenannter schwenkt Marvin im Anschluss an den Exzess um. "Come Get To This" und "Let's Get It On", sind Tränenströmer und Deluxe-Schnulzen und werden nacheinander gespielt. Marvin Gaye ist bei diesem Konzert immer noch auf der Höhe seines Könnens.

Die Playlist dieser hundert kostbaren Minuten vereint seine schönsten Songs und wird jedem Soul-Liebhaber gerecht. Auch einige seiner ersten Hits wie "I'll Be Doggone", "I Heard It Through The Grapevine" und seine unvergessenen Duette, voll unendlichem Schmelz und Bravour, gibt er zum Besten.

Nach dem sentimentalen Höhepunkt der Scheibe ("Distant Love") nähert sich Gaye wieder politischen Fragen, die er um die Zeit des Vietnamkriegs in seine Songs packte. Die solistischen Auslebungen der potenten Afrotypen werden folglich noch weitschweifender. Ein Funkmaster-Schlagzeugsolo, ein Arsenal von souligen Tastensounds, die heute so nicht mehr gebastelt werden, der Bassist slappt sich einen, die Bläser sind tight und der Trompeter schraubt sich in "Trouble Man" in freakige, hirnsprengenden Höhen.

Eines seiner letzten Live-Zeugnisse beendet Gaye mit einer Deluxe-Portion der Geschichte machenden, obligatorischen "Ooohs" und "Aaaahs" und ein paar schlichten, nach Frieden verlangenden Botschaften. Verpackt in einem wunderbaren Medley aus drei seiner schönsten sozialkritischen Hymnen des 68er-Albums "What's Going On". "War is not the answer" singt der gebrochene, auf der Bühne nach wie vor unfehlbare Soulmann. Und die Musik vermittelt, dass allein Liebe die Lösung sein kann.

Dann haucht und predigt Marvin seine letzten Töne, bedankt sich höflich, lässt noch ein paar zutiefst drogendurchtränkte Sätze ab, dann ist es aus. Und ich sitze mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen ca. einen Meter über dem Boden - freischwebend und voller geladener Ehrfurcht. Der Chor von Engeln in meinem Kopf singt weiter.

Trackliste

  1. 1. Time (To Get It Together)
  2. 2. Got To Give It Up
  3. 3. A Funky Space Reincarnation
  4. 4. After The Dance (Hellos)
  5. 5. Come Get To This
  6. 6. Let's Get It On
  7. 7. After The Dance
  8. 8. If This World Was Mine/Ain't Nothing Like The Real Thing/Ain't No Mountain High Enough
  9. 9. How Sweet It Is (To Be Loved By You)
  1. 1. Ain't That Peculiar
  2. 2. I'll Be Doggone
  3. 3. I Heard It To The Grapevine
  4. 4. Trouble Man
  5. 5. Dostand Lover
  6. 6. Inner City Blues (Make Me Wanna Holler)
  7. 7. Mercy Mercy Me
  8. 8. What's Going On

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1 Kommentar mit 2 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Weiß nicht, welche Drogen die liebe Rezensentin genommen bzw. was für einen überragenden Lover sie gerade da hatte - wenn man sich den Schmalz und die Übertreibungen weg denkt, hat sie natürlich recht: Ein bewegendes Konzert und gleichzeitig ein fast musikhistorisches Dokument, bei dem der sichtbar von Depressionen gezeichnete Mann wahrhaftig alles gibt ( was empfindsamere Menschen durchaus auch mal kurz traurig/sentimental werden lassen kann...). Ein bißchen ist die Zeit denn doch darüber hinweg gegangen, trotzdem: Wer ein breiteres Musikinteresse hat, sollte dieses Konzert gesehen haben! 4/5