laut.de-Kritik

Ein Treppenwitz der Deutschrap-Geschichte.

Review von

Drei Alben sollen es dieses Jahr werden. Selbst für den regelmäßig veröffentlichenden Massiv klingt das nach einem ambitionierten Programm. Vor allem, weil mittlerweile ganz andere Bereiche wie Döner- und Burgerläden, E-Zigaretten und Cannabis-Start-ups seine Aufmerksamkeit erfordern. Zudem nimmt längst auch die Hilfe für Krisengebiete einen bedeutenden Teil seiner Zeit ein. Er trete für eine "freie Welt" ein, erklärte der Rapper, nachdem die russische Invasion begonnen hatte. Und auch nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien transportierte er Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete.

Zwischen seinen idealistischen Einsätzen begibt sich Massiv ins Studio. "Der Turbo-Kanacke representet den Middle East!", tritt er mit der ihm eigenen Vehemenz die "Arab Wave" los. Mit stark nahöstlichem Charakter wartet die Produktion von Niza und Tengobeatz wie auch Gastsänger Mohammed Assaf auf. Dabei betont der Rapper zwar, aus dem Westjordanland zu stammen, doch zugleich eine hybride Identität zu besitzen: "Aus dem Herzen der Pfalz bis in das Herz von Berlin!" Sehr sympathisch hält er Abstand von einer vollständigen Assimilation: "Ich pumpe Marley und nicht Gabalier."

Als sinnstiftend hebt Massiv die Geburt seiner Tochter hervor. "Für Immer Jung" macht es sich musikalisch in melancholischer Nostalgie bequem, bekommt von Tengobeatz aber auch Zuversicht eingeimpft. Neben der eigenen Nachkommin schließt er auch alle anderen Kinder in sein Gebet ein. "Wer hat die Jugend hier verdorben? Wer behauptet, arme Kinder träumen nicht?", kritisiert der Rapper den Umgang mit der Jugend. Noch allgemeiner prangert er schließlich die entsolidarisierte Gesellschaft an: "Wir haben verlernt, uns zu beschützen. Wir erniedrigen uns ohne Sinn."

Anders als viele seiner Kollegen distanziert sich Massiv von neoliberalen Sinnsprüchen. "Du kannst 'ne eins haben in Mathe, doch erstickst hier auf der Straße", verabschiedet er sich in "Mein Name" unsentimental vom Leistungsprinzip. Um ihre Ziele durchzusetzen, greifen viele gleich zu "Waffen". "Viele denken, alles regelt sich mit Waffen. Sie haben nichts auf dem Kasten", bemängelt er mit monströs tief gepitchter Stimme zum leicht widersprüchlichen Action-Instrumental. Lieber setzt der Wahl-Berliner auf seine stimmliche Gewalt, als Schießereien wegen "Kinderkacke" zu glorifizieren.

Dass Massiv vor allem in stürmischer Umgebung aufblüht, haben schon Alben wie "BGB X" oder "M10 II" bewiesen. Zur geshouteten Hook und ehrfürchtigen Fanfaren versuchen Tengo und BX in "Champions League" mit dem Energielevel des breit gebauten Rappers mitzuhalten. Es gibt ja auch genügend gute Gründe, aus der Haut zu fahren. Die "Arab Wave" schlägt über TikToker und "Trash-Blogger", Instagram- und Autotone-Rapper ein. Seine "Überdosis Desinteresse" für Social Media und Playlisten à la Modus Mio verdankt er dem kardialen Befund "100 Kilo Herz".

Ein Kabinettstückchen gelingt ihm mit "Kind Der 90er". Flirrend fängt das Instrumental das unbeschwerte Jahrzehnt nach dem Mauerfall ein. Viele Deutsche blicken mit nostalgischem Blick auf die von Frieden und Wohlstand geprägte Zeit. Und wie es heute üblich ist, hangelt sich der Rapper an allerlei kulturellen Referenzen entlang, um sich ernüchtert einzugestehen: "Ich bin ein 90er Kind, das von alledem nichts hatte." Als sich die Spaßgesellschaft auf ihrem Höhepunkt befunden hat, stand der kleine Massiv als Zaungast daneben und sah Sonic, Space Jam und Super Soaker in unerreichbarer Ferne.

Sicherlich strauchelt "Turbo Kanacke" auch an der einen oder anderen Stelle. Die rührseligen Einschübe von Yonii und Manuellsen ("Sam7ini Mama", "Was Macht Sie Gerade") wären ebenso verzichtbar wie die irritierende Nähe, die der Rapper zu den Stimmchen deutscher Pop-Poeten sucht ("Mein Name", "Du Liebst Mich Nicht"). Dass aber ausgerechnet Massiv, der einst als Pfälzer Zuwanderer in Berlin die Aggro-Welle surfte, nun am ehesten für werteorientierten Hip Hop und gesellschaftlichen Zusammenhalt steht, kann getrost als Treppenwitz in die Deutschrap-Historie eingehen.

Trackliste

  1. 1. Arab Wave (mit Mohammed Assaf)
  2. 2. Für Immer Jung
  3. 3. Mein Name (mit Kaled)
  4. 4. Waffen
  5. 5. Was Macht Sie Gerade (mit Manuellsen)
  6. 6. Kind Der 90er
  7. 7. Sam7ini Mama (mit Yonii)
  8. 8. 100 Kilo Herz
  9. 9. Bis Zum Ende (mit Beirut und Granit)
  10. 10. Champions League (mit Tengo und BX)
  11. 11. So Lange Du Atmest
  12. 12. Du Liebst Mich Nicht

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