laut.de-Kritik
Legendäres Fusion-Frühwerk zwischen hypnotischer Ekstase und unnachahmlicher Coolness.
Review von Steffen EggertDer Name Miles Dewey Davis III. (1926 – 1991) ist und bleibt untrennbar verwoben mit jedweder Spielart des Jazz. Bekannt als großer Innovator, stets wandelbarer Bandleader und Trompeter oder eigenwilliger und wankelmütiger Charakter, war er im Laufe seiner Karriere an über hundert Alben beteiligt und beeinflusste neben den Genrekollegen viele weitere wichtige Künstler des 20. Jahrhunderts. Wer sich auch nur peripher mit dem Thema Jazz auseinandersetzt, kommt unweigerlich mit zwei seiner unbestritten besten Alben in Berührung: Dem Modal Jazz-Wunderwerk "Kind Of Blue" (1959) und dem in allen Belangen einzigartigen "Bitches Brew" (1970).
Bereits Ende der 1960er Jahre entwickelte der "prince of darkness", wie Davis gerne genannt wurde, eine Affinität zu der damals zeitgenössischen Rockmusik. Vor allem Psychedelic Rock-Bands wie The Electric Flag und Gitarrenikone Jimi Hendrix, die ihm seine damalige Ehefrau Betty näherbrachte, hatten es dem Künstler angetan. Er erkannte zudem, dass sich mit Jazz unmöglich größere Hallen füllen ließen, während diese bei Rockkonzerten schier aus allen Nähten platzten. Der Chef selbst ließ sich in seiner Biografie wie folgt dazu aus: "Wir spielten in einer Menge halbleerer Clubs. Das sagte uns etwas. Ich begann zu begreifen, dass die meisten Rockmusiker rein gar nichts über Musik wissen. Ich dachte mir, wenn die so viele Platten verkaufen können, ohne dass sie wirklichz wissen, was sie da tun, dann könnte ich das doch wohl auch - nur besser."
Im Jahre 1969 hatte Miles endgültig genug und läutete mit "In A Silent Way" eine neue Phase ein. Zum ersten Mal in seiner bisher bereits beachtlichen Karriere kamen elektrisch verstärkte Instrumente zum Einsatz und die Musik bekam mehr denn je einen Session- und Jam-Charakter. Davis' experimentelles Werk machte die bisher eher unpopuläre Fusion von Rock und Jazz salonfähig und ließ sie in einem ganz eigenen Glanz erblühen. Wichtigster Kollaborationspartner bei dem ganzen Unterfangen war der Österreicher Joe Zawinul, der das Titelstück komponierte und mit dem Einsatz seines E-Pianos eine völlig neue Note in die Musik brachte.
"In A Silent Way" ebnete also den Weg für Miles Davis' streitbar bestes Album "Bitches Brew": ein hypnotischer und stellenweise beinahe furchteinflößender Trip, schlicht ein Meilenstein der Jazzgeschichte. Dem Ruf des Meisters folgten hier einige musikalische Größen wie Wayne Shorter, Chick Corea, Dave Holland, John McLaughlin oder Billy Cobham, die ihren Teil zur Legendenwerdung des Albums beitrugen. Keines der Stücke wurde im Vorfeld komponiert, lediglich Akkorde und Tempi vorgegeben und so lange bearbeitet, bis sich ein beständiges Muster daraus ergab. Sobald Davis überzeugt und gepackt war, griff er zu seiner Trompete und veredelte die Musik mit seinem Instrument.
Das in der Grundstruktur von Zawinul ersonnene "Pharaoh's Dance" beginnt mit mystisch anmutenden, leicht entrückten Keyboards, zu denen die Trompete anfangs eher im Hintergrund mäandert. Eindeutig als Studiojam ist das Stück allein daran zu erkennen, dass anfangs nichts wirklich zusammenzupassen scheint. Virtuos vorgetragene Jazzgitarrennoten setzen erste Highlights, während sich die restlichen Instrumente wie bei einem irren Palaver gegenseitig rufen und einander antworten. Obwohl eine feste Struktur völlig zu fehlen scheint, gelingt der Musik die Kür, den Hörer oder die Hörerin sanft zu hypnotisieren.
Wie aus dem Nichts platzt Miles Trompete mit einer kaum zu bändigenden Kraft in den Raum, so als hätte sie in einer dunklen Ecke auf den rechten Moment gelauert. Es gesellen sich nach und nach Congas hinzu und verleihen dem Ganzen einen Voodoo-Touch, während an ein Kinderlied erinnernde Jazzjingles für einige Sekunden neckisch provieren. Alles verdichtet sich, bis sich die Instrumente auf eine erkennbare Struktur und einen wirklich animierenden Rhythmus geeinigt haben.
Über allem tanzt komplett losgelöst Davis' Trompete, und obwohl sich der Anschein, dass jeder nur für sich musiziert, nicht abschütteln lässt, fügt sich letztlich doch alles zusammen. Dabei schafft der stoisch auf und ab wandernde Bass ein ruhendes Fundament, während John McLaughlins Gitarre sich in wilden, verrückten Improvisationen ergeht. Ein stetiger Wechsel zwischen Laut und Leise lässt den Spannungsbogen beinahe brechen.
Erstmals verändern Delay-Effekte die Trompete, die damit von einem erneuten Anschwellen der restlichen Instrumente ablenkt. Längere, ausschweifendere Töne und das tänzelnde Sax von Wayne Shorter bringen mutierte Erinnerungen an den Bebop zurück, während die verzerrte Gitarre neue Flicken in den Teppich näht.
Sobald es kaum mehr möglich erscheint, sich auf einzelne Instrumente zu konzentrieren, kehrt Ruhe ein. Der Bass bleibt. Nach und nach schleicht sich das in Disharmonie vereinte Ensemble zurück ins Studio und verdichten die Luft derart spürbar, dass man meint, die Wände wanderten in die Mitte des Raumes. Am Ende mag der Erstlauscher erleichtert aufatmen, der Wiederholungstäter genießt den Thrill.
Der monumental lange Titeltrack folgt anfangs einem ähnlichen Schema. Langsame Einstimmung, freakiges Soundgetröpfel in völliger Strukturlosigkeit, klangliche Verdichtung und eine aus beiden Kanälen kommende, künstlich veränderte Trompete. Als müsse man den Raum erkunden, wolle sehen, wer schon alles zum Stelldichein erschienen sein könnte. Dabei schleicht der Kontrabass sich an wie eine hungrige Wildkatze, während Congas und Saxophon zum Reigen aufspielen. Erst jetzt kann man die Struktur eines Rocksongs ausmachen, sich endlich auf das Fusion-Konzept einlassen.
Marima und Orgel erinnern zum einen an spannende Film Noir-Szenen, zum anderen an frühen Progressive Rock. Die Struktur hält sich ungewöhnlich lange, wird aber ständig variiert. Darüber streut ein verträumter, vielleicht berauschter Miles Davis seine unverkennbaren Töne. Allerdings in einer eher ungewohnten, funky und progressiven Spielart, die auch die restlichen Instrumente dazu anstiftet, sich frei in der Peripherie zu bewegen. In diesem Fall scheint der Aufbau rückwärts zu funktionieren und driftet von Ordnung in Richtung Chaos ab.
Zum Ende hin wird es für ein durchschnittlich entwickeltes menschliches Gehirn zunehmend schwerer, alles zu erfassen. Zwei Drumsets spielen unterschiedliche Rhythmen, alle Tasten disharmonieren hervorragend miteinander. Orgelsprenkel kommen, die Unordnung wird leiser, Percussion führt mystische Züge ins Feld und das ständige Gefühl, das Ende der Session sei gekommen. Ist das der Schlussakkord? Nein. Doch?
Auch die Musiker wirken, als sei man sich über längere Zeit nicht über ein Ende des Stücks einig gewesen. So drücken sich manche in den Ecken des Saals herum, andere bleiben kurzzeitig still. Irgendwann fasst sich der Bass ein Herz und gibt eine Richtung vor, die Congas folgen, der Rest erscheint, hörbar angetan, auf dem Schirm, und es geht wieder zum aktiven Teil der Nummer zurück. Davis macht sein Ding, stoisch wie virtuos, bis eine großartige Funk-Gitarre die Stimmung erneut auf einen der vielen Höhepunkte treibt. Die Instrumente leben sich gemächlich wieder auseinander und beenden den Trip.
Regelrecht nach vorne und zudem verhältnismäßig geordnet geht es bei "Spanish Key" zu. Der Rhythmus ist gleichermaßen cool und entspannt, die Dur-Töne nach den beiden fiebrigen Ritten vitalisierend wie ein Glas Orangensaft am Katermorgen. Immer aufgeweckter, immer rockiger werdend, lebt alles von den elektrischen Gitarren, die den Begriff "Jazzrock" hier erst richtig treffend erscheinen lassen. Zusammen mit Bass, Drums und Orgel sind wir allerdings deutlich mehr im Rock- denn im Jazzbereich. Jedenfalls so lange, bis der Chef mit Joe Zawinul im Gepäck die Bühne übernimmt. Die mehr oder weniger plötzlich auftretenden Bläser und ihre eher abstrakten Verrenkungen befördern uns sehr bald wieder in den Jazz.
Wie in einer Jamsession häufig üblich, bilden auch hier Rhythmus und Tieftöner ein Fundament, das steht, wie aus Beton gegossen, und sich über einige Zeit hält. Funk- und Rocklicks sorgen in allem Gebläse für ein stimulierendes Wechselbad der Gefühle. Sobald Davis seine Trompete wieder mit breiten Effekten unterlegt, erscheint sie erst frech und verschmitzt, kurz darauf vernebelt und deutlich psychedelischer.
Das Minenspiel des Miles Davis liegt irgendwo zwischen verträumt, traurig, verschwörerisch finster oder zurückhaltend ruhig. Während er sich diesen wankelmütigen Stimmungen hingibt, läuft der Rest des Ensembles hektisch umeinander. So wie das Wesen des Künstlers immer wieder beschrieben wird, passt in diesem Fall auch sein Spiel zu dem von ihm gezeichneten Bild. Das ist reine Magie.
Mit unter fünf Minuten gilt das nächste, nach dem Gitarristen John McLaughlin benannte Stück sicherlich eher als Skit. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeit tobt er sich zusammen mit einem der E-Pianisten aus und zeigt, was er an seinem Instrument draufhat. Ungewöhnlich, vielleicht sogar unpassend gradlinig, gefällt dieses Intermezzo dennoch sehr und schlägt mit den in der zweiten Hälfte auftretenden Bläsern die Brücke zum voll und ganz wunderbaren "Miles Runs The Voodoo Down".
Jimi Hendrix zählt, wie erwähnt, zu Davis' Einflüssen, und auf keiner Aufnahme tritt dieser Aspekt deutlicher zutage als hier. Die dem Bandleader seit den 50ern eigene Coolness seines Spiels ergänzen ein straighter Bass und eine funkige Gitarre. Eine beschwichtigende, angenehme Trompetenmelodie schafft es hier nicht, aus der Gesamtstruktur auszubrechen. Von sofortiger Gefälligkeit zu sprechen wäre sicherlich vermessen, aber diese Kost lässt sich tatsächlich etwas einfacher einnehmen.
Während Bassklarinette und Sax eher dezent zur Sache gehen, wagt sich Davis mit seinem Instrument zum ersten Mal auf "Bitches Brew" richtig aus sich heraus. Wilde, schräge Passagen zeigen erneut das einzigartige Talent des Künstlers. Es wird leiser, schräger, verschworener und verträumter, aber die Coolness geht dabei in keiner Sekunde verloren. Der Bass tanzt, das E-Piano fiept in den höchsten Tönen, und bevor man sich versieht, ist die über die Zeit aufgebaute Struktur in wilde Einzelteile zersprungen, die sich zwar immer kurzzeitig wieder zusammen setzen, aber letztlich einfach dem Chaos unterliegen. Ein lange währendes Decrescendo aus träumerischen Tönen führt letztlich zur Stille und zu "Sanctuary", der Zuflucht.
Passend zum Titel geht es hier deutlich ruhiger und beschwingter zur Sache als bei den vorangegangenen Stücken. Eine melancholische Trompetenmelodie wirkt angenehm beruhigend, wie der Anbruch eines sonnigen Tages. Leichte Swing-Rhythmen erblühen im Hintergrund, die eine sanfte Zerstörung der Ruhe herbeiführen und nach wie vor in der Hektik der anderen Stücke gefangen zu sein scheinen. Dieses psychedelische Gegenspiel gipfelt in einem plötzlich wieder völlig entrückten Spektakel, das im Gegensatz zu anderen Stücken nicht laut und schroff, sondern leise und bedrohlich erscheint.
Über allem steht, wie sollte es auch anders sein, die Trompete des Meisters. Das Fehlen der restlichen Bläserfraktion lässt Miles Töne dabei nur geringfügig weniger dimensional erscheinen, so stark ist die Kraft seines Instruments. Im Vergleich zum Rest wirkt "Sanctuary" wie ein Ausatmen, als Beruhigung oder Beschwichtigung empfunden, aber sicher nicht als leichte Kost.
Bevor man sich "Bitches Brew" zum ersten Mal zu Gemüte führt, sollte man das Covermotiv (idealerweise das Gatefold der LP) auf sich wirken lassen. Viel besser kann man einen solch aufreibenden, psychedelischen aber dennoch meisterhaft intonierten Wachtraum nicht bebildern. Ein vollständiges Verstehen beim ersten Hördurchlauf ist absolut ausgeschlossen, weshalb hier dringend Geduld und Einfühlungsvermögen empfohlen werden. Hat man es aber geschafft, sich das gute Stück vollständig zu erschließen, hat man den Rest seines Lebens Freude an diesem und an anderen Werken des großen Miles Davis.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar mit 7 Antworten
Wie 13 Instrumente gleichzeitig von der Treppe geschmissen.
Wird für mich immer unhörbares Instrumentengewichse bleiben.
reingeklickt 1/5.
Sollte klar sein!
Dann geh weiter Specktakel hören und überlass die richtige Musik den coolen Jungs.
Puh... also erstmal fehlt da ganz offensichtlich ein "und Mädels" am Ende. Und sonst... puh... souverän wie der lautuser
ich denke was er will sagen ist mädels und richtige muzik passt nicht so gut
"Und sonst... puh... souverän wie der lautuser"
Ähnlich unsouverän wie OP. "unhörbares Instrumentengewichse", also wirklich. Bitches Brew ist sexy und groovy, solte kla sein.
Er weiß aber schon was Jazz ist, oder?
Allerdings klingt Hyperpop für mich wie 13 PCs die Treppe runtergeschmissen...von daher....