laut.de-Kritik

Traktat zur Rehabilitierung einer Ikone.

Review von

Viele Menschen fühlen sich Morrissey und seinem Werk eng verbunden. Die einen rettete er durch die Wirren des Kalten Krieges, die anderen durch die Pubertät, indem er mit seiner existenziellen Lyrik auf das Innenleben eines Teenagers abzielend vom Unsinn des politischen Weltgeschehens ablenkte. Heute, da politische Hasardeure mit ihrer populistischen Propaganda die Komplexität der Gesellschaft vermeintlich simpel entschlüsseln und durch die Glorifizierung nationaler Identität die mühsam errungenen Werte des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Gefahr bringen, sind solche Leitfiguren in der Popkultur umso notwendiger. Künstler, die diese Werte verteidigen und ihre Reichweite auf der öffentlichen Bühne nutzen, um für eine gute Sache einzutreten. Zynische Textzeilen der 80er Jahre wie "If it's not love then it's the bomb that will bring us together" (The Smiths) sind in Zeiten von kurzlebiger Manipulation durch sogenannte Soziale Medien wichtiger und unabdingbarer denn je.

In seinem öffentlichen Auftreten jenseits der musikalischen Bühne hat sich die Kunstfigur Morrissey oberflächlich betrachtet von diesem Idealbild einer Leitfigur entfernt. Als er sich zum Beispiel gegenüber einem australischen Musikmagazin quasi applaudierend zum Ausgang des Brexit-Votums äußerte, oder sich nach den Terroranschlägen von Manchester durch negative Äußerungen hervortat, die eines Borderline-Rassisten ähnelten, musste seine Credibility als romantisierendes Sprachrohr einer zumeist linksliberalen aber doch konservativen Fanschar schwere Einbußen hinnehmen.

Zum Zeitpunkt jener Äußerungen waren die Aufnahmen zu "Low In High School" jedoch quasi schon eingetütet. Fishing for publicity? Möglich, aber zweifellos keine Entschuldigung. Die denkbare Deutungsvielfalt seiner Aussagen ist typisch, sicher nicht ungewollt und genauso wenig ungefährlich. Gesteigert wurde dies, als sich bei der Vorabveröffentlichung der Album-Tracklist in der Fangemeinde unterschwellig die Furcht ausbreitete, dass die 80er-Ikone bei Songs wie "The Girl From Tel-Aviv Who Wouldn't Kneel" oder "Israel" jetzt auch noch eine antisemitische Fratze erkennen lasse.

Im monumentalen "Israel" könnte man judenfeindliche Äußerungen maximal vermuten, wenn man hinter dem von Marschrhythmen getragenen Vers "You were born as guilty sinners / before you stood up right you fell / put the fear of many gods / in Israel" einen Verweis auf die sogenannte Heilandsmord-Legende herbeideutet. Diese besagt, dass das Volk Israel am Tode Jesu eine Kollektivschuld treffe. Eine brandgefährliche These, derer sich nicht zuletzt die Nazis bedienten, um den Mord an den Juden zu rechtfertigen. Doch letztlich stellt Morrisseys Text wohl mehr eine alttestamentarische Referenz auf den Sündenfall von Sodom und Gomorrha dar, der die jüdische Bevölkerung dem Zorn Gottes ausgesetzt sah. Inklusive harscher Kritik an der religiösen Verblendung mit dem Werkzeug der Furcht durch die drei Weltreligionen in Jerusalem. Für die Deutung entscheidend ist vor allem der Auftaktvers, der auf die Strafe Gottes anspielt, sofern sich das Volk Israel dem Amusement hingab oder sich an seinem Körper berauschte.

So dient dieser sperrige Song mehr als Aufrechnung der unermesslichen Quantität an historischem und biblischem Schicksal, das Israel aufgrund von religiös motivierter Gewalt über die Jahrhunderte zu erdulden hatte. Und so ist dies kein Lied eines Antisemiten, sondern das eines atheistischen Pazifisten, der religiös getriebene Machtspiele in zu viel Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen münden sieht. Ein ernster Gänsehaut-Song von vielschichtiger Schönheit, der das Zeug dazu hat, "Meat Is Murder" als theatralischen Schwanengesang in seinen Konzerten abzulösen.

In "The Girl From Tel-Aviv Who Wouldn't Kneel" stoßen wir auf die Zeile "Of prince's and king's and their costly parade / blitz them all back to the Stone Age" - eine Verherrlichung des Blitzkriegs und Nazi-Methodik? Wohl kaum, ist der Begriff doch seit dem Zweiten Weltkrieg als geflügeltes Wort in die englische Umgangssprache übergegangen. Vielleicht nicht gerade die glücklichste Wortwahl im Zusammenhang mit dem Inhalt des Songs. Geht es doch um Unterdrückung auf allen Ebenen im Nahen Osten: religiös, militärisch, herrschaftlich und zwischenmenschlich. Klare Worte gegenüber den Emiren und Scheichs, die mit ihrem Ölgeld Menschen und Natur ihrem totalitären Joch unterwerfen.

Die unkonventionell beschwingte Instrumentierung, die irgendwo zwischen Tango, Flamenco und Klezmer verortet ist, taugt auch formal hervorragend dazu, das Problem Israels einfach, aber poetisch eindrücklich zu erhellen: die Armeen in und rund um das Land stehen nur dort, weil die Erde des Nahen Ostens frei übersetzt "Tränen aus Öl vergießt." So ist auch dies weniger das Lied eines misogynen Antisemiten, als das eines aufgeklärten Freidenkers und glühenden Aristokratiekritikers (siehe auch die Covergestaltung).

Es ist ja schon ein Kreuz mit diesem besonderen Künstler, wenn man inzwischen wirklich jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen muss. Denn schon bei der ersten Singleauskopplung "Spent The Day In Bed" verstörten weniger die untypisch groovenden Auftakt-Rhythmen aus dem Sequenzer, als die politische Brisanz in der Kernaussage des Songs, wenn Morrissey darin offen empfiehlt, sich nicht mehr von Nachrichten beängstigen zu lassen, der Verblendung durch die Medien zu entsagen und einfach daheim im behüteten Bett zu bleiben. Dieser Auslegungshorizont ist jedoch zu eindimensional. Denn eher handelt es sich um eine zynisch herablassende Abrechnung mit eben jenen Weichlingen, die lieber die Weltpolitik daheim vom Bett aus verfolgen. All jene, die sich in ihrer Filterblase gefangen und von Fake News getrieben zu unüberlegten Reflexhandlungen wie zum Beispiel dem Brexit-Ja hinreißen lassen. Und nur Morrissey hat die Gabe, aus einem derartigen Thema einen eingängigen Schmachtfetzen zu kreieren, der sogar Mitsing-Qualitäten aufweist. Eine Single par excellence!

Apropos Brexit: Man muss sich interpretatorisch nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen, um der Vermutung anheim zu fallen, dass der Sänger uns in "Jacky's Only Happy When She's Up On The Stage" eine lyrisch eher simpel verschlüsselte Rechtfertigung seines Applauses für die Abspaltung Großbritanniens von der EU liefert. Denn Jacky (Union Jack) ist in Morrisseys Song nur froh, wenn sie die Hauptrolle auf der politischen Bühne spielen darf, was ihr durch Verflechtung mit der EU verwehrt zu sein scheint. Nach der auslegungsrelevanten Zeile "this country is making me sick" rennt das Publikum im Abspann des Songs zum "Exit", dem Notausgang. Ein Schelm, wer "Brexit" darin liest. Die undeutliche Aussprache von "exit" als "excess" lässt zusätzlich die Deutung zu, dass nur ein politischer Exzess das Land aus der Stagnation führen könne. Oder eben den Untergang in der Isolation bedeutet, ob pro oder contra wird hier bewusst offen gelassen. Musikalisch weniger aufregend, ist "Jacky" der lyrisch brillante, intelligente Song eines politisch reflektierten Mannes, der sich nicht gerne in die Karten schauen lässt. Ein Mann, dem man nur vorwerfen könnte, eindeutiger gegen die Disintegration der EU Stellung zu nehmen.

Es ist derselbe Mann, der die einzigartige Gabe besitzt, allein begleitet von einem minimalistisch akzentuierten Piano ein bildstarkes Lamento wie "In Your Lap" zu kreieren. Das Klagelied aus der Sicht eines vielleicht in den Trümmern von Aleppo oder Mossul Zurückgebliebenen, der das Scheitern des Arabischen Frühlings, den Verlust seiner geliebten Menschen und den Untergang seiner Nation beweint und sich zum Schutz im Schoß einer vertrauten Person vergraben will. Getragen von bestürzendem Moll ist es vielleicht schlicht das intensivste und berührendste Stück Popmusik, das zu diesem Thema bislang im okzidentalischen Äther zu hören war. Die Labsal aus Schwermut, die dieses Album trägt, ist sicherlich nicht das Werk eines islamophoben Rassisten.

Der pazifistische Grundton ist unverkennbar, wenn auch nicht immer wortwörtlich ausgesprochen. "I Bury The Living" als formal ungewöhnlicher Konzeptsong handelt vom Aufstieg eines Ausgestoßenen zum Rekruten und stellt dessen blinde Befehlshörigkeit in Frage, die letztlich zu seinem (sinnlosen) Tod führt. Die zweite Single-Auskopplung "I Wish You Lonely", die zuerst wie im Gewand einer üblichen Morrissey-Loner-Ballade dahertänzelt, dann aber ebenso auf die Einsamkeit als eine der Ursachen für die Leichtgläubigkeit von Soldaten, Milizionären oder Terroristen ihre Wendung findet. Ein sehr spitzzüngiges aber genauso gefälliges Stück, das die Qualität zum Hit nur durch seine extreme Kürze einbüßt.

Damit ist Morrissey eben nicht das identitäre Rassistenschwein oder der verblendete Islamhasser, den viele Medien aktuell in sein Gebaren gegenüber der Öffentlichkeit hinein missinterpretieren. Sein schärfstes Schwert bleibt das gesungene Wort und das lyrische Ich ist die blendende Rüstung, mit der er sich wappnet. Dieses bloße Wort bedarf keines Hashtags oder Shitstorms, um dauerhafte Bedeutung zu erlangen. Mit "Low In High School" ist die Klinge gewetzter und politisch distinguierter denn je und es besteht kein weiterer Grund, Abbitte zu leisten. Morrissey serviert mit Unterstützung einer großartigen Band eine ernst zu nehmende, musikalische und vor allem lyrische Aufarbeitung der gegenwärtigen politischen Weltlage, die Zweifler geradewegs zum Schweigen bringen dürfte. In der aktuellen Popmusik wird sie ihresgleichen niemals finden.

Trackliste

  1. 1. My Love I'd Do Anything For You
  2. 2. I Wish You Lonely
  3. 3. Jacky's Only Happy When She's Up On The Stage
  4. 4. Home Is A Question Mark
  5. 5. Spent The Day In Bed
  6. 6. I Bury The Living
  7. 7. In Your Lap
  8. 8. The Girl From Tel-Aviv Who Wouldn't Kneel
  9. 9. All The Young People Must Fall In Love
  10. 10. When You Open Your Legs
  11. 11. Who Will Protect Us From The Police?
  12. 12. Israel

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