laut.de-Kritik
Mit Gras, Bier und Koks zu neuen kreativen Höhen.
Review von Giuliano BenassiMitte der 1970er Jahre nahm sich der Kanadier eine Auszeit von Ruhm-Trubel und Familie und zog von seiner Ranch im Norden Kaliforniens an den Strand von Malibu. Dort verbrachte er seine Tage damit, sich wegzuschießen, ab und an unangekündigte Konzerte in kleinen Locations zu geben und, wie gewohnt, um Lieder zu schreiben. Der Schritt ins Studio war stets kurz, viele der Aufnahmen landeten jedoch im Keller.
Am 11. August 1976 begab sich Neil Young mit seinem Stammproduzenten David Briggs in die Indigo Ranch Studios in Malibu. "Ich blieb die ganze Nacht mit David dort und nahm neun Akustik-Songs auf, bis wir ein Band hatten, dass ich 'Hitchhiker' nannte. Es war in sich durch und durch stimmig, obwohl ich reichlich angedröhnt war, das kann man deutlich heraushören", erinnerte sich Young 2014 in seiner Auto-Biographie "Special Deluxe". Ein Freund, der Schauspieler Dean Stockwell, saß die ganze Zeit bei ihm, "während ich all die Songs einen nach dem anderen runterspielte und höchstens mal kurz Pause machte, um Gras, Bier oder Koks nachzutanken. Briggs war im Regieraum und mischte live an seinem Lieblingspult".
Interessant ist auch Briggs' Erinnerung an jene Zeit: "Oft schaute er mich an und sagte: 'Nun lass ich es fließen'. Heraus kamen 'Powderfinger,' 'Pocahontas,' 'Out Of The Blue', 'Ride My Llama.' In zwei, oder gar nur einem Tag. Er griff nicht mal zu Stift und Papier, sondern nur zu seiner Gitarre und schaute mich an. Zwanzig Minuten später war 'Pocahontas' fertig."
"Pocahontas", damals schon eine US-amerikanische Heroine, aber noch nicht die weltweit bekannte Disney-Figur (der Zeichentrickfilm erschien erst 1995), gehört nach wie vor zu Youngs besten Stücken. Wie schon andere Male verwebt er Beschreibungen der Natur ("Aurora borealis / The icy sky at night"), Kritik an der Unterdrückung der Ur-Bevölkerung ("They killed us in our tepee / And they cut our women down"), Zerstörung der Natur und persönliche Erfahrungen mit surrealen Bildern. Zum Schluss sitzt er mit Marlon Brando und Pocahontas am Lagerfeuer und unterhält sich mit ihnen über Hollywood.
Die Gitarrenbegleitung passt zum Bild, mit einfachen Akkorden, ohne gezupfte Passagen. Youngs Stimme, hoch, aber noch nicht brüchig, verleiht den Zeilen jene Melancholie, die das Stück von vielen anderen abhebt. Diese erste Interpretation, die hier zu hören ist, klingt so vollkommen, dass Young sie 1979 auf "Rust Never Sleeps" nahezu identisch wiedergab.
Auf jenem Album, das als Wegbereiter des Grunge gilt, war auch "Powderfinger" zu hören, wobei die rockige Version, die er dort mit seiner Begleitband Crazy Horse spielte, die eindrücklichere ist. "Ride My Llama" hört sich dagegen auf beiden Alben wieder ähnlich an.
Gänzlich unbekanntes Material ist auf "Hitchhiker" nicht vorhanden. Den Titeltrack zog Young 2010 für "Le Noise" aus dem Ärmel, vier weitere Stücke nahm er zwischen 1977 und 1980 für weitere Alben noch einmal auf. "Hawaii" und "Give Me Strength" veröffentlicht Young hier zum ersten Mal auf einem Album, doch hat er sie gelegentlich schon live gespielt.
Auch wenn Überraschungen ausbleiben, behält Young recht, wenn er das Album als "durch und durch stimmig" bezeichnet. Es handelt sich nicht um Demo-Versionen von Stücken, die er später weiter ausarbeitete, sondern um eine intime Session, die in sich vollkommen war. Warum sie erst jetzt auf den Markt kommt? Sein Label hatte damals wie heute das Problem, dass so viel Material nicht sinnvoll zu vermarkten ist. Außerdem zeichneten sich die erfolgreichsten Musiker jener Jahre, zu denen Young nun mal gehörte, durch exzessiv ausgefeilte Produktionen aus. "Hitchhiker" gehört nicht dazu, auch wenn die Klangqualität sehr gut ist. Wie gewohnt ist es Young (und Briggs) gelungen, die besondere Stimmung, also die "Vibes" einzufangen.
Somit ist ein weiteres jener "verschollenen" Neil Young-Alben nun offiziell auf dem Markt. Der sich noch in den Archiven befindliche Rest soll bald folgen. Young, stets auf der Suche nach neuen Veröffentlichungswegen, kündigte im August 2017 einen Streaming-Dienst in höchster Tonqualität (6.000 kbps) an, auf dem "jede Single, jedes Stück und jedes Album, das ich jemals aufgenommen habe" zu hören sein sollen. Weitere Details sind bei der Veröffentlichung von "Hitchhiker" wenige Wochen später noch nicht zu erfahren, die Webseite gibt es aber schon.
1 Kommentar
Kann ich im Grunde genauso unterschreiben. "Pocahontas", "Powderfinger" und "Give Me Strength" ragen auf dieser Platte doch ein wenig heraus, aber auch der Rest ist von sehr guter Qualität. Im Herbst kommen diese melancholischen, akustischen Klänge sowieso gerade optimal.