Wie Studenten in der Fuzo: Billie und Finneas bringen Influencer*innen auch unplugged in Ekstase.
Bonn (rnk) - Stars der Gen Z stehen auf der Gästeliste und gestern Abend vor dem Telekom Forum in einer unspektakulären Straße, nicht weit vom malerischen Rhein entfernt. TikToker reden unentwegt zu ihrem Smartphone, üben Duckfaces und benutzen auch später Billie als Background für ihre Content-Videos. Dabei ist der eigentliche Anlass durchaus spannend. Der echte Star dieser kurzlebigen Star-Generation spielt ein seltenes Akustik-Konzert und das nicht in New York oder Berlin,sondern im beschaulichen Bonn, vor Ewigkeiten mal Hauptstadt der Bundesrepublik und jetzt Standort des Konzert-Ausrichters Telekom. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch daran, Billie Eilish bestimmt nicht. Sie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal geboren.
Modesünden sind zeitlos
Wie wahrscheinlich viele der 1900 Fans und gefühlt 50000 Influencer, die hier brav und aufgeregt in der Schlange warten. Oben in der Presselounge schauen Menschen über 30 verwirrt auf Kids, die im Look der Neunziger wie deren jüngere Versionen aussehen: Weite Schlabberjeans, umgedrehte Kangool-Mütze und Komplex-Schuhe mit Riesenabsätzen. Ausgezeichnet, denn warum sollen nur die Gen X und die Millennials Modesünden begehen, wenn sich eine ganz neue Generation einem fragwürdigen Modegeschmack hingibt. Die finden auch die Frisur gut, die meine Mutter immer "Poposcheitel" nannte. Fotos von meiner Abschlussklasse vor 30 Jahren sehen genauso aus wie diese freshen, trendbewussten Teenager. Vor der Show dürfen geladene Gäste wie Elif noch für Pressefotos posieren.
Komplett im Hier ist natürlich Billie Eilish. Etwas übermüdet schlurft sie unprätentiös auf die Bühne und redet über ihren Jetlag. Zum Glück ist die Organisation der Bühnenshow heute übersichtlich. Eilish und ihr Bruder Finneas sitzen wie zwei Studenten in der Fußgänger-Zone auf einem Hocker und spielen sanfte Lieder auf Klavier und Akustikgitarren. So pumpt nicht ein langsamer Beat bei "Everything I Wanted", sondern ein folkiger Bossa Nova-Sound, der noch bei weiteren Songs das Grundgerüst bildet. Es scheint das Publikum nicht zu stören, dass weder Lightshow noch ein brummernder Bass Klassiker wie "Bad Guy" untermalt. Die Fans singen jede Textzeile mit und sorgen mit ohrenbetäubendem Jubel für Tinnitus vor der Bühne.
Sehr schön auch, dass ältere Songs wie "idontwannabeyouanymore" von der Debüt-EP "Don't Smile At Me" auf der Setlist stehen. Als der Song startet hört man aufgeregte Schreie im Publikum, so dass Billie abbricht und besorgt fragt, ob etwas passiert sei. Ein Fan war wohl kollabiert. Nach einer kurzen Pause geht die Show dann weiter. Billie, die große Schwester, die Verantwortung für Fans übernimmt, aus deren Alter sie eben erst selbst herausgewachsen ist. Der etwas getragenere und erwachsenere Sound von "Happier Than Ever" steht für die Entwicklung. Die spartanische Unplugged-Instrumentierung passt dazu sehr gut. Schade nur, dass sie auf "No Time To Die", den sie vor ein paar Monaten noch der gesamten Hollywood-Prominenz präsentierte, leider verzichtet.
Kollege Gölz sah den Hype in besagter Album-Review schon minimal schrumpfen, heute Abend ist davon nicht viel zu spüren. Im Gegensatz zu den Gen Z-Stars wirken Eilish und ihr Bruder im casual Schlabber-Look komplett underdressed. Alles auf der Bühne steht im Zeichen der Musik, nur drumherum eben weniger. Auf Jubelschreie reagiert sie immer noch verschüchtert und kratzt sich fast überfordert in den mittlerweile wieder schwarzen Haaren. Als ob sie den Fans signalisieren möchte: "Hey, ich weiß doch auch nicht wie ich in den paar Jahren so groß werden konnte und wo zum Teufel ich hier überhaupt gerade spiele".
Nach Vogue-Covershooting und internationalem Hype hatten Beobachter bereits Allüren bei der Sängerin befürchtet, doch die gibt sich weiter erstaunlich bodenständig, aber auch etwas langweiliger als sonst. Nach knapp einer Stunde ist der spezielle Auftritt vorbei. In ein paar Wochen wird es in der Kölner Lanxess Arena wesentlich lauter. Heey Germany, bye Germany.
Das nervöse Treiben im Auditorium negiert den gewünschten intimen Effekt wieder. Die geladenen Infuencer*innen scheinen viel mehr damit beschäftigt zu sein, sich bei ausreichender Beleuchtung zu präsentieren, stehen während der Show mitunter minutenlang mit dem Rücken zur Bühne, lassen sich hochheben und frieren ihre Haltung für den perfekten Shoot ein. Dadurch läuft alles wunderbar absurd nebeneinander her. Oben auf der Bühne die vielleicht letzte große Ikone der alten Musikindustrie, davor die neuen Popstars. Ob die nächste Woche überhaupt noch jemand kennt, ist die andere Frage.
Als eine ukrainische Flagge nach vorne geworfen wird, dockt der Moment wieder kurz auf unserem Planeten an. Ja, es findet wirklich immer noch ein Krieg statt mit bestialischen Morden und einem bedrohlichen Aggressor. Kurze Zeit später tanzen die YouTuber und Models auf der Aftershow-Party fröhlich zu "Nummern" von Kraftwerk. Sie wissen höchstwahrscheinlich nicht mal, wer für diesen Groove verantwortlich ist. Wo lässt sich 2022 noch die Grenze zwischen Retro und Gegenwart ziehen?
Der Auftritt ist für sechs Monate auf Abruf bei MagentaTV und MagentaMusik verfügbar.
2 Kommentare
Bin da völlig ihrer Meinung. Totes random, daß die so groß geworden ist, und nicht irgendeine andere 16jährige. Soll sies halt mal genießen. Wenn sie so sehr auf "eine von euch!" macht, isse halt sehr, sehr, sehr viel näher an Influencern dran als an alten Musikikonen.
Klingt nach dem Publikum des Grauens.