Eine schwangere Gehörlose gebärdet des Rappers wehleidiges Liedchen: Kunst ... oder nur Kommerz? Den Song gibts auf der Neuauflage von "Paul".

Berlin (dani) - Hin und wieder stell' ich mir vor, wie der Sido aus "Strassenjunge"-Zeiten auf den Sido von heute schauen würde. Wär' er stolz wie einst Mama? Er hätte gute Gründe dafür. Immerhin hat er eine geradezu Lehrbuch-mäßige From-rags-to-riches-Geschichte hingelegt, vom dauerkiffenden Untergrund-Habenichts zum immer noch dauerkiffenden, aber medial omnipräsenten Popstar und Firmeninhaber. Glückwunsch dazu. Ich habe trotzdem den Verdacht, der "Strassenjunge"-Sido würde auf den 2023er-Sido spucken. Nicht nur ein bisschen, sondern den fettesten grünen Rotzklumpen, den er zusammengeröchelt bekommt, und sich dann ein Loch zum Drin-Versinken suchen, angesichts dessen:

Schon klar, Zeiten ändern dich, aber das hier dürfte so ziemlich der Inbegriff dessen sein, das der jugendliche Sido mit jedem Recht der Welt mit einer Sintflut aus Verachtung übergossen hätte. "Du Liebst Mich Nicht" bekommen wir angepriesen als "eine persönliche Auseinandersetzung mit Trennung, Verlust und den ersten Schritten danach". Tatsächlich handelt es sich um ein wehleidiges 08/15-Liebeskummerliedchen, in dem der Sitzengelassene der entschwundenen Ex bockig hinterherplärrt, dass sie ja eigentlich schon immer scheiße gewesen ist, und seiner nicht wert. Is' klar.

Alles kreist um die hochgradig erwachsene Reaktion "Du liebst mich nicht, und darum lieb' ich dich jetzt auch nicht mehr", und die ist noch nicht einmal auf Sidos Mist gewachsen, sondern bei Sabrina Setlur geborgt, die mit "Du Liebst Mich Nicht" schon 1997 einen Hit hatte. "Tribut an die Musik seiner Jugend" zolle Sido damit, heißt es. Alter! Kann sich irgendjemand vorstellen, dass der jugendliche Sido für Sabrina Setlur auch nur einen Funken Respekt übrig gehabt hat?!

Hommage an Schwester S?

Nun, ja. Vielleicht unterschätze ich seine Lernfähigkeit. Möglicherweise hat da wirklich ein Denkprozess eingesetzt und Sido entwickelt langsam ein Bewusstsein für die wichtige Rolle, die Frauen auch schon in Deutschraps früher Phase gespielt haben ... irgendwie werde ich aber den Verdacht nicht los, dass bei dieser "Hommage" zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher irgendwelche Business-Erwägungen den Ausschlag gaben.

Doch eventuell verschwörungstheoretisiere ich mir da aber auch bloß etwas zusammen, weil just übermorgen das Staffelfinale der RTL-TV-Show "Die Verräter" ansteht, in der Setlur zum ersten Mal seit längerem wieder in Erscheinung getreten ist. Wäre das ein Werbemove gewesen, hätte Sido Setlur wahrscheinlich eher direkt ins Boot geholt, anstatt nur ihre Zeilen nachzusingen.

Ganz sicher stehen jedoch Businesserwägungen hinter dem Entschluss, diesen Song nicht etwa als Vorboten für ein neues Album zu verkaufen, sondern als Nachtrag einer um eben diesen Titel erweiterten Neuauflage von "Paul". Warum nur? Wäre ich Sido-Fan und auf eine komplette Diskografie aus, ich würde mich mit einem artigen "Fick dich!" bedanken.

Das muss Kunst sein

Bleibt ... dieses Video da oben. Eine hochschwangere Frau steht da, mit Spot auf den Babybauch unterm transparenten bodenlangen Abendkleid und angemessen angefressenem Gesichtsausdruck, dramatisch vor einem architektonisch bestimmt irgendwie beeindruckenden Treppenaufgang und übersetzt den Text in Gebärdensprache. Das muss Kunst sein. Auf jeden Fall ist es inklusiv. Doppelt sogar, handelt es sich bei der Gebärdenden um die tatsächlich gehörlose (und zum Zeitpunkt des Videodrehs tatsächlich schwangere) Schauspielerin Kassandra Wedel, bekannt aus der überaus straßenkrediblen ARD-Serie "In Aller Freundschaft – die jungen Ärzte".

Beim Versuch, das zu kritisieren, kann man sich eigentlich nur in die Nesseln setzen. Wer das endkacke findet, wird sich sehr wahrscheinlich für die Schmähung von Frauen, Schwangeren und Behinderten in einem Aufwasch rechtfertigen müssen. Deswegen lassen wir das und stellen uns statt dessen alle zusammen vor, wie der "Strassenjunge"-Sido diesen unerträglich prätentiösen Kunsthochschul-Mist kommentiert hätte. Viel Spaß dabei.

Fotos

Sido und Sabrina Setlur

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