Bevor Dave Grohl den dänischen Klassiker überrennt, kommen vielversprechende Newcomer zum Zug.
Roskilde/Kopenhagen (mab) - 80.000 Festivaltickets, 20.000 Tagestickets, 30.000 freiwillige Organisationshelfer, 9 Bühnen, weit mehr als 200 Acts verteilt über 8 Tage – das Roskilde, einer der größten europäischen Musikvents (Jahrgang 1971) weist schon beeindruckende Zahlen auf. Unsere Abgesandten schauen sich das Festivalleben für euch seit dem 24. Juni aus der Nähe an.
Ausuferndes Line-Up
Während man durch Vintage-Clothing-Läden und an Atari-Merchandise vorbei streunt, trifft man auf eine selbst für Festivalverhältnisse hohe Bevölkerungsdichte an Plüschtierverkleideten, Hippiemädchen und Kuttenmetallern. Diese Bandbreite spiegelt sich auch im ausufernden Line-Up wieder.
Foo Fighters und Arcade Fire bedienen den Indie/Alternative-Mainstream, Ice Cube verzückt die Old School-Hip Hopper, Solange, Gucci Mane und Princess Nokia übernehmen den post-hippen Future-Part und Oranssi Pazuzu sowie Cult Of Luna bieten dem Finsternisgourmet echte Schmankerl. Das Roskilde Festival ist für seine Vielseitigkeit bekannt und wird dem auch 2017 gerecht.
Und längst nicht nur etablierte Namen kommen auf dem mit Seen bestückten Acker nahe der dänischen Hauptstadt Kopenhagen zum Zuge. Die ersten drei Festivaltage stehen ganz im Zeichen der Newcomer – bevorzugt regionaler Nationalität. Statt vor hundert Leuten im Holzschuppen spielen zu müssen, während die Massen vor die Orange Stage pilgern, bekommt so auch der Nachwuchs seine verdiente Aufmerksamkeit und kann auf Rising und Countdown Stage die Frühangereisten von sich überzeugen.
Newcomer-Support at its best
Dabei achten die Organisatoren auf eine genregerechte Verteilung der Acts. Während auf der futuristischen Countdown Stage in erster Linie elektronisch veranlagte Truppen aufmarschieren, gibts bei Rising alles was mit Instrumenten zu tun hat – von Prog über Shoegaze und Indie bis hin zu Black Metal. Das traditionsgereifte Angebot stößt auf regen Zuspruch im Publikum und dürfte so manchem der Bühnenfrischlinge neue Fans verschafft haben. Auch die laut.de-Redakteure hats bisweilen schwer erwischt. Wir stellen euch in einer kurzen Klickstrecke unsere Favoriten vor:
Die besten Newcomer beim #rf17
Dass Ähnliches wie das Roskilde-Rising-Konzept auch hierzulande funktioniert, beweist seit Jahren der Wacken Metal Battle. Eigentlich schade, dass nicht mehr Veranstalter dem Nachwuchs eine solche Plattform bieten. Zumal die Roskilde-Variante die Besucher durch die ausgelagerten Bühnen vom Infield fernhält und der Aufbau im späteren Festivalzentrum in Ruhe fortschreiten kann. So schießen etwa erst während der Rising-Tage rund um die Mega-Baustelle Orange Stage Stände und Kunstinstallationen aus dem Boden. Am Anreisetag ist noch kaum vorstellbar, dass hier nur eine halbe Woche später weit über 100.000 Menschen einen amtlich vorbereiteten Festivalcourt vorfinden werden.
Dåsenromantik
Mit das Beste am acht- statt viertätigen Roskildeerlebnis (das Hauptprogramm läuft vom 28. Juni bis 1. Juli): das Essen. Umgerechnet sechs, sieben Euro für eine Mahlzeit sollte man zwar mindestens rechnen, dafür reicht das Angebot weit über Pommes, Pizza und Burger hinaus. Wie wärs etwa mit einem Dosendate bei "Dåsen", die jeden Tag ein neues Gericht in stilvollen Bleckkanistern servieren, z.B. 'Hipstergryde' (auf Englisch: 'Too Cool For Meat') – und außerdem Frühstück? Oder doch lieber dem Festival entsprechend eine Go-Orange-Soup bei 'Eat Beer'? Nebenan gibts Avocado-Auberginen-Wraps und vorzügliches Chili con/sin Carne.
Obwohl die Auswahl an den ersten Tagen nur einen Bruchteil der später auf dem Infield heimischen kulinarischen Bandbreite ausmacht, hat man das Gefühl, man bräuchte viel mehr Zeit, um alles durchzuprobieren. So und dank der bestens ausgestatteten Floh-, Vintage- und Ramschmärkte lässt sich selbst der zünftige Wind überleben, der das Roskilde heuer leider quasi omnipräsent heimsucht.
Naja, bald machen ja gleich viereinhalb Indoor-Stages auf, sodass sich genug Möglichkeiten bieten, nicht nur dem ein oder anderen Headliner zugunsten von Baby Woodrose, Viagra Boys oder High On Fire zu entfliehen, sondern auch der potentiell bedrohlichen Witterung. Aber dazu bald mehr.
Die ersten beiden Haupttage
Mit das Erste, was auffällt, als das Infield am Mittwoch offiziell seine Tore öffnet: Die Plüschmenschen sind wie vom Erdboden verschluckt! Ob sie auf dem Campingplatz zurückgeblieben sind oder das wertvolle Fell aus Angst vor Regen versteckt halten – man könnte es herausfinden - doch Vanishing Twin sind momentan deutlich interessanter.
Die Briten eröffnen mit einer psychedelischen Mischung aus Electronica, Gitarrenpop und jeder Menge Avantgarde die futuristische Gloria-Stage. Im Mittelpunkt steht Sängerin Cathy Lucas mit Spitzhut und Harlekin-Hose und bassflötet das im Stockdunklen weilende Publikum in anderweitige Sphären. Unbedingter Anspieltipp.
Sehr erdenbehaftet gehts dagegen wenig später an selber Stelle zu, als die ehemalige M.I.A.-Drummerin Kiran Gandhi für ein Festivalhighlight sorgt. Mit dem Stagenamen Madame Gandhi rappt sie mittlerweile unter dem Slogan 'The Future Is Female' und vertickt passende gelbe T-Shirts, die sie ihren Bühnenfreundinnen Spirit-Color-gemäß auf die Oberkörper schnallt. Sie selbst springt rastlos zwischen Schlagzeug, linker, rechter, hinterer und mittlerer Bühnenseite hin und her und könnte das diesjährige Roskilde-Motto 'Equality' in Musik, Ansage und Attitude kaum besser verkörpern.
Frauen an die Macht: Roskilde!
The Weeknd als Tagesheadliner kommt dagegen nicht mal ansatzweise an. Zwar muss man dem "Starboy" zugestehen, dass er seine Bühne im Griff hat und es sich leisten kann, die Band irgendwo außer Sichtweite in der Höhe zu parken, aber über weite Strecken hat man das Gefühl, man hätte auch einfach einen Typen mit Weeknd-Maske auf die Bretter stellen und Play drücken können.
Sein Autotune fungiert in erster Linie als Hilfs- statt Stilmittel und der sich in Posen übende Schlagzeuger muss sich damit abfinden, dass seine Schläge im Nimbus der möglicherweise größtenteils abgeschalteten Abnahmemikros verhallen. Nun ja, eigentlich sehr nett von Abel Makkonen Tesfaye, dass er einen Trommler einstellt, obwohl er keinen braucht. The Weeknd tun etwas gegen Arbeitslosigkeit.
Nach dem ersten Haupttag sind wir uns einig: Männer bringens auf den Bühnen des Roskilde 2017 nur bedingt. Während sich im Publikum laut Veranstalter Männlein/Weiblein 50:50 die Tickets teilen, gehören die Bühnen gefühlt den Frauen. Quantitativ leisten die Booker ganze Arbeit und steuern erfolgreich gegen die bei vergleichbaren Festivals zurecht bemäkelte Männerdominanz an, qualitativ zeichnen die gebuchten Damen sogar noch ein wesentlich einprägsameres Bild.
Das beweist der Donnerstag noch mehr als der Mittwoch. Schon mittags verzaubert das Projekt Hun Solo – bestehend aus fünf skandinavischen Musikerinnen rund um Fallulah, die jeweils drei Songs performen – mit kreativem Overflow zwischen Neofolk, Singer/Songwriter und ESC-Pop.
Alle lieben Solange
Wenn auch kein offiziellen Headliner - Solange wird für die übervolle Arena zum großen Highlight – selbst für The XX, die sich unters Publikum mischen. Ihren kunstvollen R&B verpackt sie in eine großartige Bühnenshow, bestehend aus Look in rot und wirkungsvoller Minimal-Choreographie, synchron zu ihren Bläsern und Background-Sängerinnen, die sich in Stimmfarbe und Frisur anpassen. Solanges Stärke in ihrer Zerbrechlichkeit bewirkt eine ganz eigenartig schöne Stimmung, zwischen Cry und Slay. Nicht nur den einen Superfan nahe dem Zusammenbruch in der ersten Reihe, den Solange gegen Ende sogar umarmt, hat das Konzert berührt.
Weniger Weinen, mehr Reinhauen gibts davor bei Princess Nokia. Die New Yorker Rapperin ist mittlerweile weitaus bekannter und größer als von den Festivalbetreibern erst gedacht und wird spontan von 2:15 Uhr morgens ins Tageslicht und auf eine größere Bühne verlegt.
Der Hype von "Tomboy" als feministische Hymne ist eben nicht zu unterschätzen. Genauso wenig wie die Wirkung von Wertschätzung, die ein Act kommuniziert. Destiny Nicole Frasqueri, wie bei Princess Nokia im Pass steht, macht aus ihrem Auftritt eine Party mit statt für das Publikum. Da darf auch ein Fan, den Nokia besonders feiert, mit auf die Bühne und mit argen Moves fünf Minuten Roskilde-Fame einheimsen.
Gucci im Hintertreffen
Nach dieser Performance gerät der erstmals in Europa auftretende Gucci Mane klar ins Hintertreffen. Sowieso wäre er wohl gerne ein bisschen Nokia, denn statt Band führt er eine Smartphone-Crew auf die Bühne. Zwar passen die Skills, und er regt die Meute durch seine bloße Präsenz an, im wahrsten Sinne des Wortes die Decke hochzugehen (Zeltstangen sei dank). Trotzdem bleibt das denkwürdigste der Show der zwischenzeitliche Konzertabbruch aufgrund besagter Dachkletterer.
Ohnehin reden alle bloß noch über Solange. Auch The XX. Nach deren tollen Konzert gehört The XX die noch größere Orange Stage. Für Romy Madley Croft ist das nicht das erste Roskilde-Erlebnis. Als sie 16 war, besuchte sie das Festival und wurde von ihrem damaligen Love Interest verlassen: "But you guys are way more fun than she was", versichert sie. Fun ist der Auftritt auch trotz unablässigem Halb-Regen.
"If Rain Is What You Want"
Der Regen spielt auch noch die beiden verbleibenden Festivaltage eine nicht unbedeutende Rolle. Der Freitag fällt beinahe komplett nieseligem Dauerwasser zum Opfer, der Samstag leidet unter den matschigen Folgen. Das hindert trotzdem kaum jemanden, den Foo Fighters und ihrer Best-Of-Stadionrock-der-letzten-Jahrzehnte-Nummer zuzujubeln. Niemand sonst schafft es dieses Jahr, so viele Leute vor die Orange Stage zu zerren.
Und das, obwohl Lorde fast parallel in der Arena aufspielt und nicht zuletzt wegen ihres Sneaker-meets-Glamour-Outfits überzeugt. Selbst wenn die Ansagen generischer kaum ausfallen könnten – stimmlich und stimmungsvoll liefert die 20-Jährige ab.
Bei wem die Ansagen dagegen sitzen wie bei vielen Besuchern Tuborg-Bräu ist Alex Cameron. Lordes brother in continents verzückt nachmittags das familiäre Gloria mit Anekdoten über Haseninnereien, sein gutes Aussehen und strippt für Applaus – wohlgemerkt ohne anbiedernd oder arrogant rüberzukommen, sondern mit genau der richtigen Dosis Selbstironie.
Karaoke bei Tinashe
Ice Cube kann da freilich nicht zurückstecken. Ice Cube fragt Ice Cube: Warum will Ice Cube heute an keinem anderen Ort sein als hier in Dänemark? "Cause today was a motherfuckin' good day." That's why. Dänemark ist freilich eines seiner liebsten Auftrittsländer, und Roskilde sowieso viel cooler als Coachella. Ach ja und sollte man mehr erwartet haben: "Vielleicht bucht ihr mich nächstes Mal halt für zwei Stunden". Wäre sicher unterhaltsam geworden, aber auch eine Stunde Orange Stage-Time für den Mann aus Compton macht Laune.
Der laut.de-Award für die unterhaltsamste Show beim Roskilde 2017 geht trotzdem an: Tinashe. Sie killt alle. Wäre Britney nicht mehr hier – diese 24-Jährige wäre ihre Wiedergeburt. Ein durchproduziertes Popsternchen, dessen Performance allerdings so gestaltet ist, dass man sie sowohl ernst nehmen (als Kreischfan) als auch ironisch feiern kann. Der Faszination eines Acts, der einen Song komplett mit Karaoke-Backing-Video performt (inklusive Singstar-Visuals), kann man sich nur schwer entziehen.
Zwischen Ungläubigkeit, Euphorie und Belustigung steht man inmitten des zweitgrößten Festivalvenues und vergisst ganz, dass der Auftritt mit einem Schlagzeugsolo begann. Freundlicherweise erinnert der Moderator nach erfolgter Teenie-Party daran: ."What an amazing Drummer!" Tinashe, wir lieben dich. Roskilde-Moderator, wir lieben dich noch mehr.
Dinge, die wir außerdem lieben lernten:
Den schwankenden Radfahrer, der uns Samstagmittag vom Zeltplatz geleitete und vorschwärmte, welch Wunder es sei, dass sein Gefährt es irgendwie des Nachts vom Festivalgelände zu seinem Zuhause geschafft habe. Nicht nur war der eloquente Däne schon wieder bestens abgefüllt, sich seines Zustands überaus bewusst, balancierte eine Bierdose in der einen, den Lenker in der anderen Hand, sprach hervorragendes Englisch und überraschte mit recht gutem Deutsch. Er gab uns außerdem eine Lektion in Sachen dänischer Staatsbürgerschaft: "Es spielt keine Rolle, welche Farbe deine Haut hat oder solche Sachen – wenn du in der Lage bist, betrunken Fahrrad zu fahren, bist du hier im Land willkommen und ein echter Däne". Word!
Tarteletter: Unser Biker-Kumpel verzog zwar bei der Erwähnung den Mund und empfahl stattdessen Tatar im Food Court (auch sehr gut), trotzdem stahlen die dänischen Spargel-Fleisch-Tartelettes so mancher Band die Show.
Cult Of Luna: Bis halb zwei Uhr nachts ausharren, um vor spärlich besetztem Besucherraum die schwedischen Post-Metaller zu sehen, erwies sich als die beste Entscheidung der Woche. Einzig die parallel spielenden Den Sorte Skole konnten in punkto Lightshow mithalten: Die Fähigkeit Cult Of Lunas, die Musik klar in den Vordergrund zu rücken, gleichzeitig aber auch ein visuelles Erlebnis zu kreieren, ließ keinen Zweifel an ihrer Ausnahmestellung im Line-Up. 2018 solche Acts bitte zu humaneren Zeiten spielen lassen, damit auch der ein oder andere Unwissende auf gut Glück reinstolpern kann.
Texte und Fotos von Theresa Ziegler und Manuel Berger.
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