laut.de-Kritik
Nie lagen Hoffnung und Leid näher beieinander.
Review von Maximilian FritzVon sinistren "Mercy Seat"-Zeiten über die morbiden "Murder Ballads" mit PJ Harvey oder Kylie Minogue bis hin zu überbordend melodischen Klavierstücken und Ausflügen in Richtung Pop um die Jahrtausendwende - Nick Cave hat in seiner Karriere schon derart viele Stile exploriert, dass er definitiv zu den vielseitigsten Musikern unserer Zeit zählt. Gleichwohl läutete der Australier mit "Push The Sky Away" gemeinsam mit den Bad Seeds 2013 eine künstlerische Neuerfindung ein, die ihm so wohl kaum einer zugetraut hätte.
Reduzierter und gleichsam orchestraler klingt der Output seitdem. Klassische Songstrukturen wie etwa im legendären "Wheeping Song" sind in der Minderheit, Ambient und zurückgenommene Percussion dominieren. Dass Cave diesen Wandel schon vor dem Unfalltod seines Sohnes vollzog, dem schweren Schicksalsschlag, der Kritikern zufolge seither die Triebfeder für sämtliche kreativen Erzeugnisse darstellt, vergisst man dabei oft. Klar, Skeleton Tree (2016) widmete sich dezidiert dem Verlust, arbeitete schonungs- wie oftmals hoffnungslos die Trauer auf. Ein unnachgiebiges, deprimierendes Stück Musik, das mit dem unvermittelt erschienen "Ghosteen" doch relativ wenig gemein hat.
Bunte Flora und lebhafte Fauna bestimmen das Cover der neuen LP, die eigentlich als Doppelalbum angelegt ist: Die ersten acht der elf Songs seien die Kinder, die letzten drei ihre Eltern. "Ghosteen" sei eine wandernde Seele, lässt sich Cave zitieren. Schon ab dem "Spinning Song", einer Reminiszenz an den vom Australier innig verehrten Elvis Presley, ziehen sich wabernde Synthesizer und märchenhafte, mit Nachdruck beschworene Bilder durchs Album. Wie so oft nutzt Cave an dieser Stelle prominente Figuren als Vehikel und Bedeutungsträger, früher etwa Miley Cyrus oder auch biblische Figuren, allen voran Jesus.
Mit dem Tod des Kings of Rock'n'Roll und der zugleich vom Baum aus unermüdlich aufsteigenden Feder beschreibt schon der Opener die Quintessenz des Albums: Leid und Glück gehen Hand in Hand, die schiere Aussichtslosigkeit von "Skeleton Tree" weicht auf "Ghosteen" einem niemals triumphierenden, aber immer irgendwie präsenten Optimismus.
Auch das Bestreben, gesanglich neue Pfade zu erschließen, konkretisiert sich. In "Bright Horses" singt Cave zu genügsamem Klavier stellenweise unerwartet hoch. Diese immer an der Grenze zum Kitsch wandelnde und trotzdem schlicht ergreifende Ballade alterniert erneut zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Sie steht als ein Signum Caves innerer Zerrissenheit im Raum: "And everyone has a heart and it's calling for something. And we're all so sick and tired of seeing things as they are. And horses are just horses and their manes aren't full of fire", konterkariert er die vorangegangene Strophe bitter.
"Waiting For You" beginnt mit ein paar elektronische Stapfern, entwickelt sich abermals zu einer Klavier/Vocals-Melange mit den unverzichtbaren Tupfern aus Warren Ellis' Synthesizer. Mit zerbrechlicher Stimme stößt Cave sein Klagelied in die Ferne - vergeblich, wie es scheint. Emotional erreicht "Ghosteen" hier seinen Tiefpunkt, der dennoch eine gewisse humoristische Note nicht vermissen lässt: "A priest runs through the chapel, all the calendars are turning. A Jesus freak on the street says, 'He is returning'".
Nachdem er in "Night Raid" Autobiographisches verarbeitet und Erinnerungen an einen Hotelaufenthalt ergreifend wie scheinbar beliebig religiösen Bildern gegenüberstellt, entwirft Cave in "Sun Forest" ein sakrales Szenario in einem fantastischen Wald, in dem sich Kinder Richtung Sonne aufschwingen: "Come on, everyone, come on, everyone. A spiral of children climbs up to the sun". Pferde und die motivisch wiederkehrenden "Flaming Trees" brennen, doch verbrennen nicht. Eine schaurig beeindruckende Vorstellung, die der Falsett-Gesang im Outro, der frappierend an einen bärtigen Schmusesänger aus Wisconsin erinnert, sanft auflöst.
Überhaupt: Die manchmal zuckersüßen Melodien sind alles andere als eine Brücke in die musikalische Vergangenheit der Bad Seeds. Cave bedient sich weiterhin konstant seines stark symbolisch aufgeladenen Bilderkosmos. Die unkaputtbaren Schiffe haben es auch auf "Ghosteen" geschafft - auch in "Galleon Ship" bieten sie Sicherheit, dienen als Refugium. "Ghosteen Speaks" stützt im Anschluss wohl am eindeutigsten die These, dass ein Album vorliegt, das keineswegs im (gerechtfertigten) Selbstmitleid ertrinkt. Grausame Thematiken früherer Werke weichen hier einer plakativ, mit Nachdruck beschworenen Gemeinschaft, die Einsamkeit kategorisch ausschließt: "I am beside you, I am beside you. Look for me, look for me".
Was sich als perfektes Schlusswort eignen würde, ebnet stattdessen den Weg für einen stoisch, mantramäßig vorgetragenen Monolog Caves, bekannt aus den beiden Vorgängeralben. "We talked it round and round again. Then drove the car down to the sea, the sea. We sat in the car park for an hour or two. I love my baby and my baby loves me, loves me". Die stetig wiederkehrenden Bezüge zum Meer lassen sich freilich als Verweis auf die Todesumstände des Sohnes lesen, auch die gemeinsame Beziehung spendet an dieser Stelle Trost.
Der Titeltrack der zweiten CD, den seine Kinder über acht Minuten vorbereitet haben, beginnt zunächst mit einem pompösen Zusammenspiel von Streichern und Synthesizern. Nie waren die Bad Seeds so sehr Orchester, im Klangbild nie so weit von einer Rockband entfernt. Die Bridge nach etwa fünf Minuten löst mit Chören, ungezügelter Euphorie und einem entfesselt singenden Cave dann endlich einen Großteil der Spannung auf, die sich bis hierhin angestaut hat. Die folgenden Strophen erzählen wieder offen vom Verlust: "There's nothing wrong with loving something. You can't hold in your hand. You're sitting on the edge of your bed. Smoking and shaking your head". Es spielt sich ein dauerndes Für und Wider, ein fortwährender Kampf von Licht und langwährendem Schatten ab, der sich stellenweise in drollige Bären- und hinlänglich bekannte Jesus-Metaphern gießt.
Auch die Dichotomie zwischen Glühwürmchen und Sternen, die "Fireflies" eröffnet, macht in dieser Lesart Sinn und bereitet den Weg für das epische, fast viertelstündige Finale "Hollywood". Im Closer verpackt Nick Cave noch einmal seinen kompletten Weltschmerz: "We crawl into our wounds, I'm nearly all the way to Malibu. I'm gonna buy me a house up in the hills. With a tear-shaped pool and a gun that kills" - ehe sich im Refrain das erste Mal eine Gitarre und ein Schlagzeug andeuten. Ein Epos, das seinesgleichen sucht und zur Traumabewältigung und Akzeptanz obendrein noch mit einer Sage aus dem Buddhismus aufwartet, Rhythmuswechsel inbegriffen. "And I'm just waiting now, for my time to come. And I'm just waiting now, for peace to come. For peace to come", schließt Cave.
Mit den früheren Bad Seeds hat das alles wenig bis nichts zu tun, selbst vom Neubeginn "Push The Sky Away" kapselt sich Cave weiter ab, führt den beschrittenen Weg aber trotzdem konsequent fort. Im Fanlager teilen sich die Meinungen ob dieses teils aufreizend ruhigen und offen emotionalen Werks. Manchen fehlt die Abwechslung, manche schreiben einem Künstler vor, wie er zu trauern hat, und dass er dies gefälligst im Verborgenen tun soll. Wieder andere spötteln ob der Verweichlichung des einstigen Rockstars und seines engen Kontakts zu den Fans, obwohl er beide Facetten doch stets in sich trug.
Eine weitere Fraktion erkennt in "Ghosteen" ein zerbrechliches Meisterwerk, dem man diverse Durchgänge widmen sollte. Tut man das, haben es die anderen Meinungen schwer.
14 Kommentare mit 7 Antworten
Sowohl Sequel als auch Gegenentwurf zu "Skeleton Tree". Die Ambient-Klangteppiche halten sich im Hintergrund, wodurch Caves Texte und Stimme noch mehr Gewicht als im Vorgänger bekommen. Herausragendes Album, wenn man sich darauf einlässt.
Sehr schöner Text samt Exegese und Einordnung. Kompliment!
"Hollywood" - was für ein intensives Lied. Für mich der Song des Jahres.
Seine Bad Seeds begleiten den Aufbruch von England nach Malibu als schattenhafter Chor zu Wydlers sanfter Percussion so zurückhaltend wie intensiv. Hammer! An Ende dieses bewegenden Liedes steht wohl weiterhin die Ungewissheit, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Doch ebenso die Gewissheit eines gemeinsamen Lebens nach dem Todesfall. Besser kann Kunst kaum sein, finde ich.
Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.
Laut dem Buddhismus-Bezug wäre der Reinkarnationsglaube naheliegend, habe die zitierte Zeile aber auch so verstanden, Frieden mit sich selbst zu schließen.
Was für eine Schnarch-Musik...
1/5.
Langweile Pur.
Sei froh darüber, dass es dich nicht bis ins Mark trifft, wenn du das hörst. Dann scheint es dir gut zu gehen und das freut mich.
Mir egal, ob's kitschig ist. 5/5
Das ist sicher ein ganz besonderes Album. Aber oft anhören kann ich mir das nicht – zu viel Drama bei zu wenig Struktur.
https://www.peter-hamburger.de/panorama/le…
Wenn Trauer in Musik gegossen werden sollte, dann klingt das so wie dieses Album. Natürlich ist es ungewohnt, ja kitschig hier und da. Erbauungs- oder Meditationsmusik liegen nah. Aber so geschmackvoll den Ton treffend und berührend war noch kein Album, dass ich je gehört habe. Vielleicht "The Boatman's Call", aber da kenne ich den Kontext nicht. Hier trauert ein Mann um seinen Sohn und verarbeitet das mit Musik. Mit dem Hintergrund im Kopf und der richtigen Muße und Zeit entfaltet das Album eine Wirkung, die ich nur in seltenen Momenten erlebt habe.