laut.de-Kritik

In Caves Giftschrank sind nur Köstlichkeiten.

Review von

Preziosen oder Obskuritäten? Diese Frage stellt sich unausweichlich bei Raritäten-Kompilationen wie dem vorliegenden "B-Sides And Rarities (Part II)" von Nick Cave - und irgendwie auch von den Bad Seeds, die auf den Songs in unterschiedlichen Formationen zu hören sind. Die Tracks mit aussuchen durfte aber nur Caves gruseliger Schatten Warren Ellis. Wie der Name schon sagt, tauchen neben unveröffentlichten Liedern einige Stücke auf, die der geneigte Anbeter des Australiers in der ein oder anderen Form schon gehört hat, allesamt aus der Zeit 2006-2020. Für die Zeit davor gibt es die vom nach wie vor schmerzlich vermissten Mick Harvey kompilierte Erstsammlung.

Zu den hier auf Platte gebannten Stücken zählen einerseits B-Seiten und unveröffentlichte Songs, die es nicht auf reguläre Studioalben schafften, wobei damit vor allem "Ghosteen" und "Skeleton Tree" gemeint sind. Bei manchen ergibt sich der Mehrwert nicht zwingend aus dem Katalog, so ist das Cohen-Cover "Avalanche" im Vergleich zum Original-Cover kaum verändert. Ein Wahnsinnssong ist es aber trotzdem. Gemein ist fast allen Songs, dass sie wie die zur selben Zeit entstandenen Alben mit Anlauf in die Magengrube treten. Der verbitterte Sprechgesang "Steve McQueen" ist aus dem Film "One More Time With Feeling" bekannt. "Animal X" bietet Drama pur, eine Verbindung zwischen dem biblischen Cave von "No More Shall We Part" und den Synthies und Streichern der jüngeren Vergangenheit. Nicht nur ein Albumhöhepunkt, sondern einer der besten Songs im gesamten Kanon.

"Needle Boy" und "Life Per Se" zeigen, was passiert, wenn Ellis und Cave die anderen Seeds auf ihre Seite des Wahnsinns herüberziehen. Letztgenanntes ist einer der zahlreichen Abschiedssongs von seinem Sohn und in seiner Traurigkeit kaum zu ertragen. Das launigere "Vortex" überzeugt als Single, verblasst aber neben dem überragenden "Earthlings". Erwähnt sei noch der Akustik-Grinderman-Bastard "Accidents Will Happen".

Die zweite Art von Tracks auf dem Album wirkt auf den ersten Blick unspannender: das sind first takes bzw. Demo-Versionen, wie die ersten Aufnahmen von "First Skeleton Tree", "First Girl In Amber' und "First Bright Horses" sowie eine Live-Version von "Push The Sky Away (Live with The Melbourne Symphony Orchestra)". Das weniger ausorchestrierte "First Waiting For You" zeigt eindrücklich, warum diese Songs quantitativ weniger signifikant sind, aber nicht qualitativ: Diese enorm von Ellis beeinflussten Liedern basieren auf hervorragendem Songwriting, das in diesen Takes zur Geltung kommt. Sie fallen nicht karger aus, sondern besinnen sich mehr auf die Stärke der Grundmelodien.

Es überrascht und gibt dem langjährigem Cave-Fan eine fast schon obskure Sensation, wie deutlich man hier die Transformation des mittelalten Caves in sein von Ellis getragenes Spätwerk heraushört. "Boatman's Call" war ein Album für aussichtslos Depressive, aber die große Mehrzahl der hier versammelten Werke tut schlicht weh. Wo "Carnage" geschliffen war, ist "B-Sides & Rarities (Part 2)" roh, ohne grob wie Grinderman zu sein. Eine Facette vom Nick, die man so seit "Abattoir Blues" nicht mehr hörte.

Andere Musiker würden Nieren dafür opfern, Cavesche Fingerübungen wie "Fleeting Love" hinzukriegen. "B-Sides & Rarities (Part 2)" ist kein kohärentes Album, alleine schon, weil es eine Entwicklung nachzeichnet. Ein reines Fanwerk für Cave-Kundige ist es allerdings auch nicht, nicht im Geringsten. Ich würde es jungen Ersthörern von Cave sogar als Einstieg empfehlen, mit seiner skelettierten Ehrlichkeit. 27 hervorragende Songs ergeben halt ein Meisterwerk; wo der erste Teil mehr Wumms hatte, hat Part II Unmittelbarkeit. Näher kommt man dem Spätwerk Caves mit seinen immer penibleren Produktionen nirgendwo, als Sänger sowieso nicht.

Trackliste

  1. 1. Hey Little Firing Squad
  2. 2. Fleeting Love
  3. 3. Accidents Will Happen
  4. 4. Free To Walk feat. Debbie Harry
  5. 5. Avalanche
  6. 6. Vortex
  7. 7. Needle Boy
  8. 8. Lightning Bolts
  9. 9. Animal X
  10. 10. Give Us a Kiss
  11. 11. Push The Sky Away (Live with The Melbourne Symphony Orchestra)
  12. 12. First Skeleton Tree
  13. 13. King Sized Nick Cave Blues
  14. 14. Opium Eyes
  15. 15. Big Dream (With Sky)
  16. 16. Instrumental 33
  17. 17. Hell Villanelle
  18. 18. Euthanasia
  19. 19. Life Per Se
  20. 20. Steve McQueen
  21. 21. First Bright Horses
  22. 22. First Girl In Amber
  23. 23. Glacier
  24. 24. Heart That Kills You
  25. 25. First Waiting For You
  26. 26. Sudden Song
  27. 27. Earthlings

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