laut.de-Kritik

Eine Geduldsprobe, die sich am Ende auszahlt.

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"Das ist mir zu artsy" mag eine durchaus berechtigte Kritik gegenüber experimenteller, bemüht kunstvoller und abstrakter Musik sein. Es kann aber auch bedeuten, dass das Kunstwerk einfach zu schnell beiseite gelegt und in eine Schublade gesteckt wurde. Wer an Perfume Genius sechstem Studioalbum "Ugly Season" Gefallen finden möchte, sollte auf jeden Fall Geduld mitbringen und damit rechnen, dass es mehrere Anläufe braucht.

Schon auf dem Vorgänger "Set My Heart On Fire Immediately", den die internationale Fachpresse (zurecht) zu den besten Alben der letzten Jahre zählt, hatte Perfume Genius/Mike Hadreas das Tempo mitunter ganz schön gedrosselt und gefühlt strukturlose Soundcollagen zwischen Songs untergebracht, die jedes Radio-Programm bereichern würden.

"Ugly Season" treibt das nun auf die Spitze. Manchmal eher hauchend als singend trägt Hadreas seine selten eindeutigen Texte vor. Weil die instrumentelle Begleitung gerade zu Beginn sehr spärlich ausfällt, dauert es eine Weile, bis das Album Fahrt aufnimmt. Mit "Scherzo" ist ein auf den ersten Blick pseudokünstlerisches Klavierstück ganz ohne Gesang dabei, das man eher auf einem Vorspiel für das interessierte Fachpublikum als auf einem Pop-Album verorten würde. Er folgt auf den verspielten, zuckersüßen "Pop Song", dessen Platzierung Hadreas recht trivial erklärt: "I knew I wanted a pop song in the middle of it, and so I wrote "Pop Song"". Manchmal kann es so einfach sein.

Nun gehört zur Wahrheit dazu, dass "Ugly Season" kein gewöhnliches Pop-Album ist - was ist das überhaupt? Obwohl der Hintergedanke, die Stücke eines Tages als Album zu veröffentlichen, schon bei ihrer Komposition vorhanden gewesen ist, war "Ugly Season" zunächst mal als musikalische Begleitung für eine gemeinsame Tanzaufführung mit Kate Wallich gedacht. "The Sun Stil Burns Here" wurde Ende 2019 uraufgeführt - und von der New York Times mehr oder weniger in der Luft zerrissen. Drei Jahre später sollen die Lieder jetzt also als Album funktionieren und in Auszügen auch als Kurzfilm, der zeitgleich mit dem Album erschien und ungefähr die Hälfte des Materials beinhaltet.

Klar, in der Kunstform Album fehlen die visuellen Reize von außen, die ein Kurzfilm oder eine Tanzvorführung bieten. Deshalb ist "Ugly Season" eine Herausforderung. Gleichwohl eine spannende Herausforderung, betrachtet man allein die Vielfalt der eingesetzten Instrumente: Glockenspiel, Klarinette, Flöte, Saxophon und Harmonium sind eher selten Seite an Seite mit Schlagzeug, E-Gitarre und Drum-Machine zu hören. Auch dank der virtuosen Zusammenführung der Produktion durch den begnadeten Blake Mills, der Hadreas nun schon seit fünf Jahren zur Seite steht, bildet die Achterbahnfahrt aus "Eye in the Wall", "Photograph" und "Hellbent" im letzten Drittel das Herzstück des Albums.

Das fast neunminütige "Eye in the Wall" schlängelt groovend vor sich hin und nimmt unzählige Wendungen an, ehe es zum nächsten Highlight "Photograph" überleitet. "No fantasy / you were meant for me", singt Hadreas romantisch, doch die wilde Saxophon-Bridge in der Mitte und die darauffolgende Klimax klingen eher nach freiem Fall Richtung Hölle. Dort angekommen pulsiert "Hellbent" genauso strukturlos aufregend und bietet dem Schlagzeuger und dem Saxophonisten eine letzte Gelegenheit, sich bis zum Umfallen auszutoben und alles aus den Instrumenten herauszuholen.

Zum Abschluss dient "Cenote" als eine Art harmonischer Gegenentwurf zum etwas abstoßenden "Scherzo": Ebenfalls als reines Klavier-Stück startend, wird das Outro nach und nach mit Synth- und Streicher-Begleitung bereichert: ein versöhnliches Ende. "Ugly Season" ist wohl das am wenigsten zugängliche Werk von Perfume Genius und kann sich als Geduldsprobe herausstellen. Eine Geduldsprobe, die sich auszahlt.

Trackliste

  1. 1. Just a Room
  2. 2. Herem
  3. 3. Teeth
  4. 4. Pop Song
  5. 5. Scherzo
  6. 6. Ugly Season
  7. 7. Eye in the Wall
  8. 8. Photograph
  9. 9. Hellbent
  10. 10. Cenote

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