laut.de-Kritik
Der Radiohead-Trommler vertont einen Film und ein tragisches Schicksal.
Review von Magnus HesseMit dem dritten Solowerk hat sich Philip Selway, den meisten bekannt als Schlagzeuger von Radiohead, keine leichte Aufgabe vorgenommen. "Let Me Go" ist der Soundtrack zum gleichnamigen Film (2016), in dem eine Frau (Juliet Stevenson) feststellen muss, dass ihre Mutter (Karin Bertling) sie deshalb als kleines Kind früh zurückgelassen hat, weil sie aus freien Stücken und Überzeugung Aufseherin im Konzentrationslager Auschwitz werden wollte. Die Buchvorlage zum Film basiert aus dieser wahren Geschichte, die die erwachsene Tochter Helga Schneider schließlich aufschreibt.
Die Beklemmung und diese kriechende Erkenntnis der Hauptfigur Helga macht Selway in fast jedem der größtenteils instrumentalen Stücke spürbar. Aufgrund dieser Konstellation versperrt sich die Platte einem aber auch zuweilen und wirkt in weniger gelungenen Momenten wie aus dem Zusammenhang gerissene Schnipsel.
Nur zwei Songs leiht der stoisch im Hintergrund der Riesen-Band agierende Mann seine Stimme: "Wide Open" und "Let Me Go" stechen dadurch auch mehr als Lieder und weniger als Begleitmaterial hervor. Denn die vielen vor allem mit Akustikgitarre, gedämpftem Klavier und einem Streichquartett arrangierten Titel wollen nicht auf Teufel komm raus ohne ihre filmische Vorlage unterhalten, sondern treten zurück, um sich im Zusammenspiel mit den Bildern zu entfalten. Und dennoch stehen allem die von Cello oder Geige angeführten Melodiefolgen in ihrer atmosphärischen Kraft den referenzlosen Werken von Richter, Frahm und Co. in nichts nach.
Bereits mit den ersten kratzigen Bogenzügen der Violine in "Helga's Theme" breitet sich ein Schauern aus und eine klamme Eiseskälte, die förmlich unter die Haut kriecht. Nicht jede Melodie auf "Let Me Go" zerrt den Hörer derart mit sich in Tiefe, schon allein deshalb, weil Selway viele Intermezzi einstreut, die auf Melodien oder klare Muster verzichten und mit singender Säge und allerlei Zwischengeräuschen eher meditativ wirken.
Den düsteren Faden verliert er bei all dem aber nie. Etwa das zerreißende "Zakopane" (Leitmotiv der gleichnamigen polnischen Kleinstadt) fährt wieder die knochigen Klauen aus und tilgt jede Resthoffnung auf das Gute im Menschen, ohne dabei annähernd pathetisch daher zu kommen. Zur richtigen Zeit beschert "Walk", gesungen von Lambs Lou Rhodes den willkommenen Weckruf, und was für einen: Irgendwo zwischen einer etwas tröstlicheren Beth Gibbons und der trüben Geborgenheit von Sparklehorse ragt der Track mit Selways trockenem Schlagzeug aus dem Unkonkreten seiner Umgebung heraus. Langweilig sind "Snakecharmer" oder "Mine" nicht, doch wirken sie in ihrer rohen Form etwas arg in den Raum gestellt. Einen Raum, so brach gelegen und verlassen von jeder menschlichen Wärme wie die Kammern in Auschwitz.
Wenn sich der Radiohead-Drummer etwa in "Mutti" weg vom Chamber-Pop der Klassik annähert, schrammt er im Gegensatz zu Kollegen wie Arnalds knapp am Kitsch vorbei. Hier kennt die Tragik der Streicher, mit erbitterter Leidenschaft komponiert und eingespielt, keine Grenzen mehr. Es bedarf dennoch tragender Säulen wie "Let Me Go", um diese debile Sammlung zusammenzuhalten und nicht in Beiläufigkeit abdriften zu lassen. Bei letztgenanntem Stück kann man sich das Grinsen ausnahmsweise kaum verkneifen, wenn nach der Hälfte und einer schwerfälligen Klavierfigur, begleitet von Selways sehnsüchtigem Gesang, das Schlagzeug mit einer derart markanten und ihren Spieler entlarvenden Radiohead-Handschrift oder genauer gesagt "Pyramid Song"-Handschrift einstimmt und dem Song auf die Beine hilft.
Obwohl der Drittling als Soundtrack-Album nur selten Ausflüge auf eigene Faust unternimmt, lohnen sich diese um so mehr. Am Ende hat man ein schlichtes, aber stimmungsgeladenes Album gehört, das seinen Hörern nicht mehr verspricht, als es einhalten kann.
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