laut.de-Kritik

Frischer Roots Reggae von einem Artist, der auch etwas zu sagen hat.

Review von

Der Einstieg in "A Matter Of Time" gestaltet sich für ein popmusikalisches Album recht ungewöhnlich: wie ein Durcheinander aus Feuerwerkskörpern, kleinen Knallern, großen Zündstangen mit hoch aufsteigenden Farbstreifen und Sternschnuppen.

Der Opener ist sehr stark filmisch aufgebaut. Visuell ist eine Voraussetzung für visionär. Der Musikszene täten Visionen gut, statt hinter Facebook und Spotify hinterherzustolpern. Auch für die jamaikanische Gesellschaft hätte der Sänger Protoje, im Hauptberuf 2016/17 auch Mentor mehrerer Newcomer, einige Rezepte für Selbstbewusstsein und Erfolg. Und so lässt er das von Korruption und Meritokratie (Herrschaft weniger Reicher) durchtränkte System zusammen mit Gast Chronixx in Flammen ("Flames") aufgehen. Es implodiert hörbar.

Wie in einem Soundtrack oder einer romantischen Ouvertüre bauen sich Geigen auf, Klangeffekte, die Drums prasseln heftig aufeinander, dann tritt erst nach einer Minute der atemlose Gesang hinzu. Protoje scheint die still gehaltene Minute jetzt mit um so größerer Dringlichkeit aufholen zu müssen, es ist von Zerstörung die Rede, vom System, wie es scheitert und alles mit sich in Brand reißt, doch am Ende selbst verglüht. Ab Minute 3'40" sammeln die beiden Systemkritiker Protoje und Chronixx die Überreste auf, Spoken Word statt Gesang, und quittieren alles mit einem höhnischen Lachen.

Einiges über das, was Protoje denkt, sollte man wissen, um mehr vom Album zu haben: "We should be importing less. Jamaica is a rural country. Fruits and vegetables never should be imported." Zu viele Leute, sagt er in einem von mir im vergangenen Jahr geführten Interview weiter, würden in die immer volleren, vermüllten Städte (Kingston, Montego Bay) ziehen. Dort fänden sie keine Verwendung, keine Arbeit, und so wäre es doch besser, aus den ländlichen Gebieten mehr zu machen. Zum Beispiel im (legalen) Anbau und Export von Marihuana. "We have the best brands in terms of marihuana." Die Regierung hat 2015 mit einer Gesetzesänderung wenige Großplantagen, die Politikern nahe stehen, begünstigt, und Kleinbauern das Wasser abgegraben. Und in der Musik selbst möchte er aufhören mit dem Nachmachen des Immergleichen, den zu erfüllenden Roots Essentials der 70er. Aber er will auch nicht einfach US-Hip Hop nachmachen. Er will Musik weiterentwickeln.

Auch der zweite Song "Blood Money" sprüht Funken. Musikalisch sehr unauffällig, geradezu sanft – textlich ein Angriff auf selbstverständlich gewordene Missstände der jamaikanischen Gesellschaft. Protoje benennt die Schmiergelder, die fließen, um Säuglinge in Krankenhäusern einfach verschwinden zu lassen, zu entsorgen. Da kommen dann Babys abhanden, ohne dass dies auch nur irgendwo dokumentiert wäre. Es soll auf der Karibikinsel Leute in Protojes Bekanntenkreis geben, die ihn gefragt haben, ob er sich wirklich noch seines Lebens sicher fühle, wenn er das so veröffentlicht.

"Hohe Tiere", geachtet von "der Gesellschaft", verbrennen Müll in Wohngegenden von (ärmeren) Menschen. Das wird nicht nur nicht geahndet, sondern Politik und Medien preisen die Strippenzieher der illegalen Müllhalden als Stützen des Systems.

"Blood Money" war eine viel diskutierte Single im Januar 2017. Zumal der Song auch die Armut im Land vor Augen führt. "Gappa gets wider, until it's a total divide" – Die Arm-Reich-Schere ("Gap", im jamaikanischen Slang "Gappa") geht auseinander, bis eine komplette Spaltung der Gesellschaft erreicht ist.

Zwei weitere Highlights: "Like This" und "No Guarantee (feat. Chronixx"). "No Guarantee" knackte ohne Bewegtbild, nur als Official Audio, auf dem Videoportal YouTube binnen eines Monats die Millionenmarke. Nicht, dass das im Roots Reggae nun öfter passieren würde. Aber Protoje will ja in die Billboard-Charts und von dort aus andere Reggae-Acts mitziehen. Die Billboard-Charts sollen danach voller Reggae sein. In Deutschland ist das Album über ein obskures Import-Label erhältlich - und von Charts weit entfernt.

Das Einstiegsriff von "No Guarantee" ist schon mal Rock und ein überkreuztes Zitat (Sample wäre zu viel gesagt) aus mehreren bekannten Songs: "Wild Thing" von den Troggs ("Wild thang, you gave me everything!") und "Who Knows" (Protoje feat. Chronixx) höre ich heraus, weitere scheinen mir andeutungsweise enthalten. Eine wuchtig wie mit einer Axt eingeschlagene Bass-Kadenz graviert Markenzeichen in den Song ein. Die Grundstimmung wirkt düster.

Über dem tieftönenden Arrangement: die helle Stimme von Chronixx versus die hier tiefe, immer etwas näselnd klingende von Protoje. Ein starker Kontrast, in bisherigen Duetten nie so aufgefallen. Beide haben es in diesem Song wohl ganz eilig, wollen rasch ihre Botschaft übermitteln, das gibt den Instrumenten Drive. Bass und Stimmen unterteilen den Song.

"Like This" ist einfach wunderschön. Ein melodiöser Tune, der genau das Vorurteil, Reggae sei oft monoton und rhythmuslastig, entkräftet. Protoje hat in dieser Hinsicht schon einiges geleistet.

Die ausgeklügelte Machart, die Instrumentierung, der Innovationsgrad und dass der Artist etwas zu sagen hat, zeichnen "A Matter Of Time" aus. Trotzdem: Die Songqualität zerfällt in vier sehr starke Songs, drei sehr gute und drei ganz unbedeutende. Am Ende gibt uns Protoje in "Camera Show" eine wichtige Botschaft auf den Weg: Die Bilder, über die wir mit unseren Smartphones selber viel und auch schnell Macht haben, helfen uns (wenn wir das wollen) beim Absetzen des bestehenden Elitesystems. So ganz neu ist der Gedanke nicht.

Und dennoch: Von den Künstlern des Roots Reggae-Revivals hat Protoje, wie diese Veröffentlichung zeigt, offenbar noch die meisten frischen Einfälle. Und den Mut, sie umzusetzen.

Trackliste

  1. 1. Flames (feat. Chronixx)
  2. 2. Blood Money
  3. 3. Mind Of A King
  4. 4. Like This
  5. 5. Bout Noon
  6. 6. A Matter Of Time
  7. 7. No Guarantee (feat. Chronixx)
  8. 8. Lessons
  9. 9. Truths & Rights (feat. Mortimer)
  10. 10. Camera Show

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