laut.de-Kritik

Als hätten Yes und Rush ein Kind gezeugt und den High Gain Regler hochgedreht.

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Psychotic Waltz gelten als die Hippies unter den Progressive Metallern. Dies äußert sich in freigeistiger Musizierkunst bei gleichzeitig immens hoher Virtuosität. Nach dem Release zweier Demoaufnahmen betreten Buddy Lackey, Dan Rock und Co. den Olymp der höchsten musikalischen Weihen.

"A Social Grace" löst auch dreißig Jahre nach seinem Erscheinen jedes Versprechen ein, das auf dem Gebiet progressiver Tonkunst durch die Musikgeschichte geistert und erfüllt das Prädikat zeitlos wie die großen Platten des Genres, sei es King Crimsons "In The Court Of The Crimson King", Rushs "Moving Pictures" oder "Images And Words".

Anfang der Neunziger veröffentlicht, bildet die Platte den Kulminationspunkt des Heavy Metals und weist in eine alternative Zukunft, die durch die Grunge-Bewegung allerdings keine breitere Wirkung entfacht hat. Dafür wirkt der Release in Musikerkreisen bedeutsam nach. Auch wenn die Größen wie Dream Theater und Fates Warning die Deutungshoheit besitzen, schmälert das die Einflusssphäre von Psychotic Waltz kein bisschen.

Somit ereilt die Band ein ähnliches Schicksal wie die Progressive Rock-Vertreter Gentle Giant oder Van der Graaf Generator, die heute in der Musik von Opeth oder Steven Wilson zu "Raven"-Zeiten nachwirken, aber selten namentlich Nennung erfahren. Auch eine vergleichbar tiefschürfende Formation wie Nevermore hat an der musikalischen Blaupause des psychotischen Walzers partizipiert.

Die Weirdness der Frickel-Afficionados Watchtower trifft auf den melodischen Reichtum früher Dream Theater, verbindet sich mit der epischen Ausgeklügeltheit von Fates Warning und versprüht die nietenbehangene Lendenschürzen-Power von Armored Saint. "I believe in something strange." Die Zeile aus dem Titel "Strange" schreibt die Anything Goes-Attitüde in das Drehbuch dieser Platte.

Die mehrstimmigen Soli aus der Kreativküche des Saiten-Duos Rock/McAlpin verrührt die Bachsche Fugenkunst mit Malmsteenscher Shredder-Finesse. Dazu hagelt es dissonante Kaskaden, nach deren Genuss eine Lobotomie wie eine Bachblütentherapie wirkt.

Ein prägnantes Drum-Intro bildet den Einstieg zu "Another Prophets Song". Über pointiert gespielt Arpeggien taumelt der Track in eine impressionistische Traumsequenz, die mit zum Großartigsten gehört, was je eine Band nach der Betätigung eines Aufnahmeknopfes gespielt hat.

Als hätten Gustav Klimt und Jean Giraud in einem Fiebertraum von Jules Verne Harald Giger getroffen. So laufen in etwa die Assoziationen beim Blick aufs Artwork ab. Das Skurrile, scheinbar von der Norm abweichende, nimmt das Quintett als Selbstverständlichkeit. Lange bevor Inklusion ein gesellschaftspolitisches Thema darstellt, leben die Amis diesen Anspruch, indem die Band gemeinsam mit Gitarrist Brian McAlpin, der seit einem schweren Autounfall an den Rollstuhl gefesselt ist, sämtliche Barrieren überwinden.

Harsche Riffs aus der Bay Area mit modalem Harmonieverständnis? "... And the Devil Cried" kracht mit dem Holzhammer ins Gebälk und zimmert aus den Überresten eine monumentale Klang-Kathedrale. Mit "I Remember" tönt eine Jahrhundert-Ballade aus den Boxen, die als Ehrerbietung an Flöten-Flamingo und Jethro Tull Front-Vorsteher Ian Anderson gedacht ist und mit manisch-depressiven Flügelschlägen die Tiefen der menschlichen Seele erreicht.

"Sleeping Dogs" ist Synth gewordener Wahnsinn, der Alien-Soundtrack, Zarathustra und die Urgewalt einer Orgel auffährt und mindestens genauso bekloppt gestrickt ist wie "Revolution 9" von den Beatles. Der tänzerische Psych-Folk auf "Only A Dream" bringt das durch den musikalischen Input in einem rauschhaften Zustand befindliche Gemüt wieder runter.

"I Of The Storm" führt zusammen, was vermutlich nie zusammen gehört: Dave Lombardos Tanz auf der Double Bass Rasierklinge im Thrash-Smasher "Angel Of Death" und Mike Portnoys Drum-Figur in der Strophe von "Strange Deja Vu". Dieser Vergleich legt nahe, dass Drummer Norm Leggio keinen Deut schlechter als die beiden vorher genannten Herren an den Kesseln zockt. Das sich an diesen brachialen Beginn anschließende tiefergelegte Breitwand-Riff findet sich nahezu 1 zu 1 auf Dream Theaters "The Mirror" wieder.

Mit "Spiral Tower" erklingt der Abgesang auf die menschliche Hybris. Ein in Musik geronnener Wahnwitz voller evolutionärer Gleichmut vor dem alltäglichen Gehabe und Getue. "Shattering the sky, to stand a thousand miles high, as the shaking spiral tower starts to fall to their surprise." Gibt das nicht schöne Zeilen für einen Grabstein ab?

Nach einem klassischen Piano-Interlude, dessen Harmoniefolge lässig alles links liegen lässt, was sich Jordan Rudess aus seinem Spitzbart zwirbelt, schaukelt sich die Bandhymne "A Psychotic Waltz" zu höchsten geistigen Weihen. Im Closer "Nothing" gelingt es der Combo Morgen- und Abendland schlüssig zu verbinden und auf eine doomige Reise zu schicken. Wenn sich jemals ein Mensch gefragt hat, warum Primaten sich bequemt haben, von Bäumen zu steigen, hier erklingt die Antwort.

Lackeys Vocals pendeln zwischen Wimmern und Säuseln im Angesicht qualvollsten Herzschmerz sowie Jubilieren im Bewusstsein des größten Triumph. In der Performance gibt sich der Multiinstrumentalist ähnlich exaltiert wie der ein Jahr nach Erscheinen von "A Social Grace" verstorbene Freddie Mercury. Psychotic Waltz räumen mit der Platte ab und es hagelt 'Album des Monats'-Auszeichnungen. Als hätten Yes und Rush ein Kind gezeugt und den High Gain-Regler hochgedreht.

Später kamen Lackey and Co auf den Trichter, aus den Ideen, die in einem einzigen "A Social Grace"-Song stecken, ganze Alben zu produzieren. Was die Grandezza der nachfolgenden Platten "Into The Everflow", "Mosquito" und "Bleeding" nicht schmälert. Fans spitzen bereits die Ohren. Das Label Insideout hat die Band unter Vertrag genommen. 2020 erscheint das neue Album.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. ... And the Devil Cried
  2. 2. Halo Of Thorns
  3. 3. Another Prophet Song
  4. 4. Successor
  5. 5. In This Place
  6. 6. I Remember
  7. 7. Sleeping Dogs
  8. 8. I Of The Storm
  9. 9. A Psychotic Waltz
  10. 10. Only In A Dream
  11. 11. Spiral Tower
  12. 12. Strange
  13. 13. Nothing

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