laut.de-Kritik

Für die Jukebox gänzlich ungeeignet.

Review von

Eine Anekdote vorweg: Kürzlich habe ich gelesen, dass in Magazinen und Blogs der Begriff "Wyatting" kursiert, der offensichtlich auf Robert Wyatt verweist. Er soll die Praxis beschreiben, Kneipengäste mit der Wahl sonderbarer Lieder aus der Jukebox zu verärgern.

Wer mit der Musik des mittlerweile 62-jährigen Ex-Soft Machine-Mannes vertraut ist, wird über diese Wortneuschöpfung wissend schmunzeln. Der Singer/Songwriter und Multiinstrumentalist hat mit "Comicopera" nun ein weiteres, selbstproduziertes Album veröffentlicht, das eine klare Genrezuschreibung verweigert und von der Massenkompatibilität weit entfernt ist.

Gekonnt bringt er Folk, viel Jazz, Pop, Weltmusik und klassische Elemente zur Synthese und setzt sich textlich für eine bessere Welt ein. Illustre Gastmusiker wie Brian Eno, Paul Weller und Phil Manzanera tragen ihrerseits zu einem beeindruckenden Hörerlebnis bei.

"Comicopera" ist in drei Akte mit den Titeln "Lost In Noise", "The Here And The Now" und "Away With The Fairies" geteilt. Eine Hörnersektion führt in den dramatischen Opener "Stay Tuned" ein, Bass, Jazzschlagzeug und ein sphärischer weiblicher Backgroundgesang untermalen wirkungsvoll die kraftvolle Stimme Wyatts. Seine Frau Alfie Benge intoniert das wunderschöne, behutsam instrumentierte "Just As You Are", ehe Robert den Gesangspart übernimmt.

Ebenso ergreifend kommen das von Bläsern dominierte "You You" und das mit theatralischem Sprechgesang inszenierte "A.W.O.L." daher. "Anachronist" schließt den ersten Akt ab und schmeichelt sich lässig freejazzig ins Ohr.

Der zweite Akt beginnt grandios mit der sonnigen Folknummer "A Beautiful Peace", mit dem erstmals eine Akustikgitarre zum Einsatz kommt; die tolle Melodie wird zudem vom Fingerschnippen und Bass rhythmisiert. Großartig auch, wie sich Wyatt mit "Be Serious" zur weichen E-Gitarre als sanfter Blueser präsentiert.

Karibische Klänge verbinden sich im instrumentalen "On The Town Square" harmonisch mit den Bläsern, während Wyatts verfremdete Stimme und die karge Instrumentierung in "Mob Rule" diese Fröhlichkeit wieder zurücknehmen. Dem schönen, mit Piano unterlegten "A Beautiful War" folgt das irritierende "Out Of The Blue", das mit abgehackten Synthie-Klängen und atonalen Soundflächen eine bedrohliche Stimmung aufbaut. Die Bomben sind gefallen.

Die letzten Worte, die Wyatt hier singt, lauten "You've planted all your everlasting hatred in my heart". Und es ist kein Zufall, dass sich der letzte Akt nur aus spanisch- und italienischsprachigen Songs zusammensetzt. Vielmehr lässt sich das aufgrund des anhaltenden Kriegsterrors als ein Form des linguistischen Protests verstehen.

Dem herzergreifenden "Del Mondo" folgt das in eine Drohkulisse umschlagende "Cancion de Julieta", das auf einem Text von Garcia Lorca basiert. Man kann sich nie in Sicherheit wähnen, suggeriert der Stimmungsumbruch.

Improvisiert klingt das schwere, mit Synthesizer und Xylophon eingespielte Instrumental "Pastasfari", dem das zerstückelte "Fragment" folgt, dessen harmonische Struktur sich erst gegen Ende offenbart. Das Album schließt mit "Hasta Siempre Comandante", einer vom Piano dominierten Latin Jazz-Nummer ab.

Es ist bemerkenswert, welche Fülle an unterschiedlichstem Songmaterial Robert Wyatt auf diesen Longplayer packt und wie er gleichermaßen herauszufordern und zu erfreuen vermag. "Comicopera" ist ein anspruchsvoll instrumentiertes und vielseitig arrangiertes Artpop-Werk, das trotz aller Experimentierfreudigkeit jederzeit zugänglich bleibt und Wyatt einmal mehr als Ausnahmekünstler ausweist, auch wenn die Songs nach wie vor nicht für die Jukebox taugen.

Trackliste

  1. 1. Stay Tuned
  2. 2. Just As You Are
  3. 3. You You
  4. 4. A.W.O.L.
  5. 5. Anachronist
  6. 6. A Beautiful Peace
  7. 7. Be Serious
  8. 8. On The Town Square
  9. 9. Mob Rule
  10. 10. A Beautiful War
  11. 11. Out Of The Blue
  12. 12. Del Mondo
  13. 13. Cancion de Julieta
  14. 14. Pastafari
  15. 15. Fragment
  16. 16. Hasta Siempre Comandante

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Robert Wyatt

Zu großer Bekanntheit gelangt Robert Wyatt aufgrund seine Zugehörigkeit zur legendären, 1966 gegründeten Band Soft Machine, die neben Caravan und …

18 Kommentare

  • Vor 16 Jahren

    ex-soft machine und ex-machine mole übermusiker robert wyatt kommt mit nem neuen studio-album!

    [size=10:c7350d702f]Wie so oft pendeln Wyatts Songs auch auf Comicopera zwischen Struktur und Improvisation, zwischen Fragilität und Melancholie. Selbst in den beinahe heiteren Momenten wie dem von Steeldrums geprägten „On The Town Square“ dringt Schwere durch, die wie in der Hommage an den jung verstorbenen spanischen Dichter und Maler Garcia Lorca auch in verwirrende Klänge und Drohkulissen umschlagen kann. Genau das Gegenteil bildet „Del Mondo“, eine todsterbensschöne Nummer, die der auch auf diesem Album abwechselnd spanisch, englisch und auch italienisch singende, einstige Ausnahmedrummer Wyatt mit seiner einzigartigen Stimme weiteren Glanz verleiht.[/size:c7350d702f]

  • Vor 16 Jahren

    also ich bin zufrieden... sehr sogar. seit der überguten rock bottom hat sich eindeutig etwas getan.

  • Vor 16 Jahren

    Möglicherweise hast du bzgl. Captian Beefheart einfach an der falschen Stelle angefangen. Ich habe mir auch größenwahnsinnigerweise gleich "Trout Mask Replica" besorgt, woraufhin die Platte ein volles Jahr im Regal verstaubte.

    Es hat sich mir erst durch den Kauf von "Safe as Milk" erschloßen: Dieses schöne und wie ich finde auch eingängige Album funktioniert wie ein "Decorder" für den restlichen Opus des Captains. Ich kann mir garnicht vorstellen, wie man ohne "Abba Zaba" leben kann.

    Und Van Vliets Gesangsstil ist wirklich einmalig, wobei ich mich immer frage, wie er das solange durchhalten konnte. Toll auch wie Mark E. Smith ihn auf der aktuellen Fall-Platte adaptiert.

  • Vor 16 Jahren

    Mittlerweile ist das Album wahrscheinlich zu einem meiner meistgehörtesten der letzten Monate aufgestiegen. Bitte alle Vorbehalte ablegen. Zeit nehmen. Irgendwann ergreift es einen. Und zwar richtig.

    Mein Favorit (mit Abstand) ist das atmosphärische "You, you". So sehr ich die politischen Einstellungen des anti-zionistischen Autors Gilad Atzmon mit Vorsicht genieße, so sehr bin ich vom Klarinetten-Spiel des Jazz-Musikers in diesem Titel begeistert.

    Großartig auch "Just As You Are" - wie sich hier liedhafte Simplizität mit experimentellen Klängen verbindet - nicht zuletzt zusammengehalten von Paul Wellers bluesig-jazzig gespielter Gitarrenbegleitung.

    "Del Mondo" ist tatsächlich "sterbensschön" und "Out Of The Blue" geht in eine (ganz andere) Richtung, die mir alllerdings auch sehr zusagt. Wobei Wyatt in Punkto "unheimliche Düsterkeit" und "geniale Dissonanz" an Scott Walkers Meisterwerk "The Drift" denn doch nicht (mal annähernd) heranreicht. Die Frage, ob das überhaupt vergleichbar ist, ist dabei unerheblich - "The Drift" ist ohnehin nicht mit irgendeiner Art Popmusik vergleichbar. Also, ist keine Kritik an "Comicopera", das ich einfach nur uneingeschränkt hörenswert und entdeckenswert finde.