laut.de-Kritik
Ohne Sicherheitsabstand in eine schauderhafte Welt.
Review von Thomas HaasFolgender Take auf Reddit: Sideshow und Labelchef Mike seien so etwas wie das Eastcoast-Pendant zu Vince Staples und Earl Sweatshirt, den beiden langjährigen Kritikerlieblingen aus Los Angeles. Obwohl der Vergleich sicherlich an einigen Stellen gewaltig hinkt, Sideshow lebt mittlerweile selbst in Kalifornien, bietet er dennoch eine ganz interessante Referenzlinie. Während Mike ganz eindeutig in der abstrakt-kryptischen Tradition Earls agiert (es ließen sich sicherlich auch Argumente für die umgekehrte Sichtweise finden), orientiert sich Sideshow vielmehr an der gefühlskalt-nüchternen Berichterstattung eines Vince Staples.
Einen noch weitaus präziseren Bezugspunkt für Sideshows Schaffen liefert das künstlerische Universum, das sich in den letzten Jahren um Mikes Label 10k entwickelt hat. Künstler*innen wie Niontay, El Cousteau, Anysia Kym, Wiki oder Navy Blue zählen inzwischen zur Speerspitze des Avantgarde-Rap, ihre Alben und Songs tauchen zurecht in diversen Bestenlisten und mitunter sogar Fashion-Commercials auf. Man könnte sagen: Sie sind so etwas wie die cool kids ("Earl gonna get sent back to Samoa for hanging around with Cousteau and 'em", Anm. d. Red.: Earl wurde nach Veröffentlichung seiner ersten Odd Future-Songs auf ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche in Samoa geschickt), die sich nach der ausschweifenden Hood-Party doch viel lieber über Dekolonialiserung, African Heritage und feministische Perspektiven unterhalten.
Irgendwo in diesem, zugegeben, recht unübersichtlichen Spannungsfeld bewegt sich Sideshow. Geboren mit äthiopischen Wurzeln in Washington, D.C., verwebt er die Weirdness eines MF DOOM und die Exzentrik eines Madlib mit kontemporären Einflüssen von Drill bis Jersey Club und mauserte sich so zu einem der Fixpunkte der neuen Untergrund-Generation. Im Zentrum seiner Musik stehen recht unverhohlen Themen wie Drogenmissbrauch und -kriminalität, Unterdrückung und Diskriminierung, eine Welt, in die man mit Sideshow ohne Sicherheitsabstand eintaucht. Milieufolkore und persönliche Struggles verbinden sich unweigerlich mit gesellschaftlichen Zusammenhängen.
So oder so ähnlich funktioniert auch "F.U.N. T.O.Y.", für das Akronym im Titel gibt es wohl keine Auflösung. In den knapp 30 Minuten, in denen viele Songs kaum die Zwei-Minuten-Marke überschreiten, oft gänzlich ohne Refrain auskommen und Titel wie "R.I.P. Stove", "R.I.P. Ty R.I.P. Ricco (T Pain)" oder "How To Kill A Man" tragen, herrscht eine zumeist schauderhafte und dauerhaft dringliche Atmosphäre. Immer wieder leiten düstere Vocal-Skits Songs ein oder über. Gleich zu Beginn verkündet ein Straßenprophet: "Young people are not gonna make it into heaven / It's too much pleasure down here." Besagte pleasure kehrt sich in Sideshows Welt sekundenschnell ins reinste Gegenteil: "I ain't trippin' / Off a knife inside my back, it helped me learn something." Drogen streifen jeden der Songs zumindest als Tangente und sind häufig der rote Faden, der die Erzählung unbarmherzig zusammenhält.
Musikalisch strahlt das Album des 26-Jährigen ein beeindruckendes Selbstverständnis aus. Sideshow flowt, ähnlich wie Vince Staples oder Earl Sweatshirt, zumeist konstant, changiert selten und entfaltet so eine fast hypnotische Wirkung. Selbst wenn er auf Tracks wie dem hektischen "Bad Friend" an Tempo zulegt, verharrt seine Stimme in einem beinahe lethargischen Ton. Der Sound vereint verschachtelte Elemente des Abstract Rap mit basslastigen Einflüssen von Trap bis Jersey Club. Bestes Beispiel: Der grandiose, hypnotische Opener "Sang Or" mit dem Franzosen Jwles. Außerdem: energiegeladene, perkussive Beats, die sich um ein Vocal-Sample winden ("Sell Me Sickness, Sell Me Health (Eazy T)"), jazzige Elemente und wabernde Basslines. Trotz dieser Vielzahl an Einflüssen bleibt Sideshows Klang unverkennbar, mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegt er sich durch die verschiedenen Soundwelten und passt sich mühelos jeder Nuance an.
Das Album endet wie es begann: mit einer Mahnung, in der die eigene Geschichte mit den strukturellen Kontexten kollidiert, denen sie sich niemals vollständig entziehen kann: "I can't go through depression, I'm a person of color. I don't get depressed, all my problems come from systemic reasons, you know what I'm sayin'? So, all my problems are due to oppression. I'm not depressed, I'm oppressed. I don't need no Lexapro, I don't need no Zoloft. I need none of that shit. What I need is freedom."
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