laut.de-Kritik
Zeitkritischer Pop, der in die Fußstapfen David Bowies tritt.
Review von Toni HennigMit der letzten selbstbetitelten Platte befand sich die 35-jährige Wahl-New Yorkerin Annie Clark alias St. Vincent auf dem kommerziellen Höhepunkt ihrer Karriere und gewann einen Grammy für das beste Alternative-Album. Damals präsentierte sie sich als ein stolzes, androgynes Wesen. Auf dem Cover ihrer aktuellen Scheibe "Masseduction", auf Deutsch "Verführung der Massen", sieht man nun einen Allerwertesten.
Dabei handelt es sich um die Rückansicht des Models Carlotta Kohl. Darüber hinaus symbolisiert das in knalligen Rottönen gehaltenen Farbschema auf dem Foto sowohl Ausgelassenheit als auch Wut. Die Musik auf dieser Platte lebt ebenfalls von ihrer Ambivalenz. Sie besitzt nicht wenige eingängige und schöne Pop-Momente. Demgegenüber hört man oftmals überdrehte elektronische Beats. Außerdem finden sich unzählige musikhistorische Anspielungen und Querverweise.
Im rockigen Titelsong heißt es: "Smiling nihilist met angry glass-half-full drinking manic panic singing 'Boatman's Call'." Die Amerikanerin bezieht sich mit dieser Zeile auf Nick Cave. In der orchestralen Ballade "New York", der einprägsamsten und dramatischsten Nummer, die sie bis dato geschrieben hat, singt sie im Refrain: "I have lost a hero, I have lost a friend." Vermutlich trauert sie um den Verlust von David Bowie, der die letzten Jahre seines Lebens in New York verbracht hat. Nach seinem Tod soll sie aufrichtig Tränen vergossen haben, sagte sie kürzlich in einem Interview für den deutschsprachigen Rolling Stone.
Viele Kritiker bezeichnen die Sängerin und Multiinstrumentalistin als das weibliche Pendant zum wandelnden Chamäleon. Für fast jedes ihrer Alben erschafft sie eine neue Kunstfigur und bei ihren Liveshows trägt sie aufwendige und schrille Kostüme. So muss man "Masseduction" als Teil eines Gesamtkonzeptes betrachten, das klangliche wie visuelle und modische Aspekte umfasst. An dieser von Jack Antonoff produzierten und in New York und Los Angeles aufgenommenen Platte arbeitete St. Vincent über zwei Jahre.
Thematisch setzt sie sich mit den Entwicklungen in unserer Zeit kritisch auseinander. In "Pills", das im Refrain eine stakkatoähnliche Struktur aufweist, richtet sie sich gegen das Gesundheitssystem in den USA, das die Menschen mit ihren Pillen zu gleichförmigen Zombies mache. In "Los Ageless" beklagt sie den Schönheitswahn in Hollywood. Darüber hinaus könnte der Song aufgrund der einfachen Melodieführung problemlos im Radio laufen. Mainstream-Konsumenten dürfte dieser Zynismus dennoch schwer im Magen liegen.
Weiterhin thematisiert Annie Clark ihr komplexes Verhältnis zur Liebe und zur Sexualität und ihre Depressionen. In "Happy Birthday, Johnny", einer fantastischen Ballade an Piano und Steelgitarre, hält sie zunächst für jemanden ein persönliches Geburtstagsständchen ab. Zum Schluss lässt sie uns jedoch an ihren Selbstzweifeln teilhaben. Ansonsten funkt sie, wie in "Sugarboy", nach einem ehrlichen Selbstbekenntnis gerne mal mit einer elektronisch-verzerrten Gitarre und Störgeräuschen dazwischen. Mit dieser Sprödigkeit will sie den Hörer nicht zu nah an ihre Gefühlswelt heranlassen.
Dadurch gestaltet sich das Wechselspiel zwischen der verletzlichen Privatperson, die von Betäubung und Realitätsflucht erzählt, und der intelligenten Beobachterin, die der Gesellschaft den Spiegel vorhält, oftmals gelungener als die einzelnen Songs an sich. Dennoch entwickelt "Masseduction" eine besondere Eigendynamik. So kann man etwa die eher mittelprächtige und unspektakuläre Funk-Nummer "Savior" oder das etwas zu pompös geratene R'n'B-Stück "Slow Disco" schwer aus dem Albumkontext reißen.
Somit tritt St. Vincent weiterhin in die Fußstapfen ihres Ziehvaters David Bowie. Mit diesem über die Musik hinausgehenden, patchworkartigen Werk denkt sie in größeren Dimensionen als bisher. Die Platte bildet nur die Grundlage für das, was sie in den nächsten Wochen und Monaten noch live und multimedial fortführt. Ein Massenpublikum dürfte Annie Clark mit dieser unangenehmen Scheibe dagegen nicht erreichen. Vielmehr sollte man sie als ironischen Kommentar gegenüber der Beiläufigkeit vieler aktueller Produktionen im Pop verstehen.
6 Kommentare mit 6 Antworten
geiles album, vor allem 'masseduction' und 'happy birthday, johnny' sind klasse. nur das hochgelobte 'new york' kann mich irgendwie nicht überzeugen... gerade einprägsam ist der song meiner meinung nach nicht wirklich.
Empfinde ich anders. Der Refrain geht mir seit Tagen nicht mehr aus dem Ohr. Dabei gibt es kompositorisch gesehen bessere Tracks auf der Platte ("Los Ageless", "Happy Birthday, Johnny" zum Beispiel).
Die Frau hat's einfach verstanden (siehe Cover).
Hat was verstanden?
Naja, zumindest wie man sein Hinterteil auf einem Cover platziert.^^
Es ist ja nicht mal ihre Rückansicht.
Eines der 3 besten Alben dieses Jahr!
Grandioses Album mit den persönlichen Highlights "Los Ageless" und "Smoking Section".
ich tu' mich recht schwer mit ihr.
als texterin finde ich sie herausragend. gerade wegen ihrer vielseitigkeit von sarkasmus bis zur ausgelassenen lebensfreude hat sie ne große spannweite.
auch die art, wie sie gitarre spielt gefällt mir durchaus. ansonsten überzeugt mich ihre musikalische vielseitigkeit hier nicht ganz so sehr. die songs sind schick aufgemacht und abwechslunbgsreich dargeboten. aber so richtuig zünden können sie nicht. jedenfalls nicht bei mir.
es geht ihr ein wenig die fähigkeit, melodien zu komponieren, die mit arrangements und zeilen mithalten können.
Ich finde, das entwickelt sich nach einigen Durchgängen. War anfänglich auch eher enttäuscht. Außerdem fügen sich die Songs eher dem Konzept unter. Hört man deutlich in "Pills", das mit seiner repetitiven Struktur das Gesundheitssystem anprangert, das Menschen zu gleichförmigen Zombies mache. Da ist ja durchaus bewusst so gemacht.
schon klar. "pills" ist stimmig. ich meine auch eher tracks wie etwa den titelsong. aber ok, ih gebe ihr noch ein, zwei durchläufe.
viel bohei, das album, oh wei!