laut.de-Kritik

EDM-Pop-Bretter mit angemessener Lautstärke.

Review von

Der Begriff Noise hat in der K-Pop-Fandom ein seltsames Eigenleben angenommen. Irgendwann haben Kids angefangen, alle elektronischen Strömungen so zu bezeichnen, die den in ihrer Wahrnehmung sonst perfekt reinen Pop verschmutzen. Es ist dieselbe Fraktion, die jedes Element außerhalb des harmonierten Gesangs-Refrains am liebsten aus der Popmusik segregieren würde. Man solle sich die Rap-Parts sparen, alles Gesprochene, und gnade euch Gott, man setze einen Drop statt eines Refrains.

Kurzum: Das Noise-Narrativ war das spezifische Ankreiden von allem, das die Stray Kids an Markenkern haben. In ihren Titeltracks spielte diese JYP-Boygroup bisher elektronisch, aggressiv und Rap-lastig auf. Statt davon nun aber zurückzurudern, schlagen sie auf ihrem neuen Album "Noeasy" komplett in diese Kerbe. Es ist eins der konsequentesten K-Pop-Releases des Jahres und ein Beweis dafür, warum die Gruppe gerade an die kreative Spitze des Genres gehört.

Emblematisch steht dafür natürlich vor allem das erste Drittel der Platte, das eklektisch und mit Schmackes nach vorne geht. "Cheese" eröffnet mit temporeichem, elektronischen Gerumpel. Es ist so simpel, wie es effektiv ist, man fühlt sich in die Tage der großen EDM-Banger von Block B oder BIGBANG zurückversetzt. Aber Stray Kids stammen nicht aus der Black Eyed Peas-Ära des Genres und klingen deshalb selbst auf einem so simplen Rager kompetenter und ästhetisch feinsinniger, als viele ihrer Vorgänger es taten.

Der Titeltrack "Thunderous" setzt dahingehend einen beeindruckenden Akzent: Das Arrangement aus programmierten und eingepielten Drums ist komplex, in dem beinharten EDM-Brett finden sich Elemente traditioneller koreanischer Percussion – und der Drop, den sie aus diesem vielseitig rhythmischen Stück ableiten, verdient es, ein Donnerschlag genannt zu werden. K-Pop Gruppen der dritten und vierten Generation agieren oft am besten dann, wenn sie sich für alternative Sound-Ideen und Songstrukturen öffnen. "Thunderous" knüpft an ihre besten Titeltracks an, Songs wie "Miroh", "Side Effects" oder "God's Menu", mit denen sie schon oftmals gezeigt haben, dass sie die organische Legierung von Pop und Electro der Szene beherrschen.

"Domino" und "Ssick" führen diese Stoßrichtung weiter aus und halten die Energie für einen spektakulären Vier-Track-Run himmelhoch. Auch wenn sich keine Momente mehr finden, die sich sofort so ikonisch einfühlen wie der einleitende Groove von "Cheese" oder der Drop von "Thunderous", glänzen sie doch mit starken Performances und einer Produktion, deren Liebe zum Detail bei anderen Gruppen zu Titeltracks gereicht hätte.

Leider ziehen sie diesen Sound nicht knallhart durch, was wünschenswert und mutig gewesen wäre. Aber am Ende des Tages gilt es immer noch einen Boygroup-Markt zu bespielen, weswegen der Balladen-lastige Mittelteil ein bisschen weniger Druck macht. "The View" oder "Silent Cry" machen klassisches Nachmittagsprogramm-Melodrama. So solide sie auch geschrieben und gesungen sein mögen, fühlen sie sich doch ein bisschen wie notwendige Genre-Kost an. Auch in diesem Terrain funktionieren die Stray Kids elektronisch ausproduziert am besten. "Star Lost" und "Secret Secret" docken an der Synth Pop-Melancholie um 2010 an und geraten zu den effektivsten Balladen des Albums. Sie klingen luftiger und verträumter, statt all-out auf die Tränendrüse zu kloppen.

Die Subunit-Songs legen schließlich noch einmal eine Übung in Vielseitigkeit nach, die ein paar der Mitglieder rechtschaffen in gutes Licht rückt. Die tiefe, sonore Stimme von Felix ist oft die erste, die neuen Hörern der Gruppe auffällt, aber zwischendurch sind es der kompromisslose Swagger von Lee Know oder die markante Präsenz von Hyunjin, die besonders im Kopf bleiben. "Surfin" gelingt als leichtfüßiger Trap-Song für die Soundcloud-Ära, Han gibt auf "Gone Away" die konventionellste Balladen-Darbietung der Platte, die nur ihre extreme handwerkliche Güte davor bewahrt, nicht auf das Album zu passen.

"Wolfgang" und "Oh" schließen das Album als zwei Nachschläge ab, die am Ende die wichtige Kurve noch einmal kriegen: Ja, Stray Kids zeigen im Mittelteil, dass sie alle Konventionen einer Boygroup einwandfrei beherrschen. Aber was sie von allen anderen Pop-Acts der Szene weltweit abgrenzt, ist ihr beinharter Umgang mit Electro-Produktion, die Kaskaden der Rap-Line, die Bereitschaft, musikalisch ihre Edge und Angstiness noch ein bisschen prominenter in den Mittelpunkt zu rütteln. "Noeasy" ist ein brutales K-Pop-Release, das die Stray Kids als momentan potenteste Fabrik für Banger im koreanischen Boyband-Markt zementiert. Sie haben sich das Noise-Label gekrallt und einen Sound daraus gemacht, der im gesamten Pop-Betrieb derzeit seinesgleichen sucht.

Trackliste

  1. 1. Cheese
  2. 2. Thunderous
  3. 3. Domino
  4. 4. Ssick
  5. 5. The View
  6. 6. Sorry, I Love You
  7. 7. Silent Cry
  8. 8. Secret Secret
  9. 9. Star Lost
  10. 10. Red Lights
  11. 11. Surfin'
  12. 12. Gone Away
  13. 13. Wolfgang
  14. 14. Mixtape: Oh

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