laut.de-Kritik

Ein Banger - im Underground-Schuppen oder auf der Zürcher Street Parade.

Review von

Frank Schätzings Roman "Der Schwarm" lehrt: Nicht alles, was aus dem Wasser fleucht, gehört auf den Esstisch. Die Krabbe, die auf dem Albumcover aufgrund der ungewöhnlichen Perspektive quasi auf Augenhöhe begegnet, regt jedenfalls nicht den Appetit auf Meeresfrüchte an. Im Gegenteil. Etwas Monströses landet da an. Kein hochentwickelter Organismus vielleicht, aber ein gefährlich unkaputtbarer, wie der Action-Freeze-Effekt suggeriert.

Die bedrohliche Dynamik des Fotos - selbst die Scheren der Krabbe sehen plötzlich aus wie in die Luft gereckte Devil horns - bereitet auf das vor, was aus den Boxen schallen wird. Ein akustischer Brandsatz: Schon allein der zweitaktige Rhythmus-/Synthieloop im Intro des Albumopeners "Smack My Bitch Up" verheißt nichts weniger als Starkstrom. Das ungeschönte, aus subjektiver Einstellung erzählte Partyvideo zum Track wurde später kontrovers diskutiert und teils als frauenfeindlich eingestuft.

"The Fat Of The Land" markiert dennoch den Karrierehöhepunkt The Prodigys. Kenner der britischen Dance-Institution respektive Elektronikfans mögen die beiden Vorgänger "The Prodigy Experience" (1992) und "Music For The Jilted Generation" (1994) vorziehen, Alternative- und Rockfans bleiben beim Drittling. Sicher, "The Fat Of The Land" steht vor allem für den kommerziellen Peak: die meist verkaufte Platte in Großbritannien 1997, internationale Nummer-eins-Platzierungen und Festivalbookings in der Größenordnung Glastonburys. Es gibt aber auch musikalische Gründe.

Die beiden ersten The Prodigy-Scheiben bleiben deutlich im Acidhouse/Rave-Kontext verhaftet - von einer Nummer wie "Posion" mal abgesehen, die wie ein Vorbote auf "The Fat Of The Land" anmutet. Die Tracks sind meist instrumental und trotz Breakbeat-Ansätzen an der hymnischen Four-To-The-Floor-Logik orientiert: Eine hyperaktive, teils chaotische Partyatmosphäre kommt auf. Drei Jahre später klingt das etwas anders.

Hart wie Heavy Metal, düster lärmend wie der britische Elektronik- und Hip Hop-Underground - The Prodigy sind jetzt trotz Rave-Tauglichkeit auf Krawall gebürstet, was nicht zuletzt an fiesen Vocals liegt. Keith Flint, Maxim und Leeroy Thornhill greifen auch zu Mikro und Keyboard statt nur die Vortänzer zu geben.

Die Samples reichen von Kool & The Gang bis Rage Against The Machine. Fast könnte man meinen, The Prodigy machen Crossover ("Serial Thrilla"). Der Kreuzüber aus Dance, Rock und Hip Hop firmierte damals als Big Beat. Die Genrebezeichnung hört sich zwar irgendwie doof an, geht aber am Kern der Sache nicht vorbei.

Am Anfang von The Prodigy steht Liam Howlett, ein Underground-DJ, der in typisch britischer Manier keine stilistischen Berührungsängste kennt, gilt es eine Party zum Kochen zu bringen. Zu Beginn ein Hip Hop-DJ wird er Teil der aufflammenden Rave-Szene, führt aber auch Industrial, Breaks, Punk oder Rock im Plattenkoffer.

Die jahrelange DJ-Erfahrung fließt hörbar in die eigenen Tracks ein: Howlett versteht es instinktiv, Arrangements und Beats zu basteln, die eine Meute ausflippen lassen. Man merkt es bis ins Detail. Viele Basisbeats hätte auch ein Studiodrummer eindreschen können. Howlett schneidet die Fills an die richtigen Stellen bzw. belegt die Instrumente zum richtigen Zeitpunkt mit Effekten, um noch mal anzuschieben oder den nächsten Part einzuleiten. Diese Dancegrooves kommen aus dem Bauch und treten direkt in den Hintern.

Atemlos, aber auf den Punkt reihen sich Samples, Synths und Schnipsel über die mehrschichtig konstruierten Groovepatterns, der Energielevel bleibt immer oben. Spätestens beim zweiten Track, der gefühlten Rocknummer "Breathe", sind The Prodigy ein ungewöhnlich tougher und funky krachender Live-Danceact. The Prodigys Live-Gitarrist Jim Davies war an den Studioaufnahmen beteiligt.

"Diesel Power" bietet dann den meisten Text: Howletts Programmierung und Kool Keith am Mic sind eine Offenbarung. So, und nur so, geht Rap für Alternativefans - vielleicht die coolste Nummer der Scheibe. "Funky Shit" und "Mindfields" kehren zu den Grundfesten zurück und fusionieren Breakbeats mit Hip Hop-Bass und Raveattitüde.

Der neunminütige, mantramäßig brummende Big Beat "Narayan" mit den Vocals von Kula Shaker Crispian Mills gerät zur Tanzwalze zwischen Sphärik und schneidendem Beat. Das Tempo oben hält danach der wohl kultigste Track - die erste Single "Firestarter", die wegen seiner als gewalttätig eingestuften Lyrics ebenfalls zensiert wird. Der Track fasst die neuen The Prodigy aber schön zusammen: Vom rüden Krach im Hardcore-Keller bis hin zur aufgeputschten Stimmung im Ravetempel schwingt irgendwie alles mit.

"Climbatize", quasi die Trip Hop-Nummer des Albums, nimmt das Gas raus, bevor ein L7-Cover den interessanten Schlusspunkt markiert (die weiblichen Vocals stammen von Republicas Saffron). Der Elektropunk fällt soundtechnisch etwas aus dem Rahmen, "Fuel My Fire" passt aber als Message perfekt ins Bild. Das Original der Punkrockladys hält die Fahne der Sex Pistols oben: Und The Prodigy präsentieren sich als Danceact, der hinlangt wie ein Punkrockband.

"The Fat Of The Land" würde im Underground-Schuppen um die Ecke genauso funktionieren wie auf der Zürcher Street Parade. Das macht die Platte zu einem der Alternative-Banger der 90er.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Smack My Bitch Up
  2. 2. Breathe
  3. 3. Diesel Power
  4. 4. Funky Shit
  5. 5. Serial Thrilla
  6. 6. Mindfields
  7. 7. Narayan
  8. 8. Firestarter
  9. 9. Climbatize
  10. 10. Fuel My Fire

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