laut.de-Kritik
Epische Gospel-Sommer-Melancholie mit Kasabians Serge Pizzorno.
Review von Laura WeinertEin Mythos, den man sich seit 500 Jahren erzählt, ohne dass er darüber alt wird: der des Genies. Sergio Pizzorno bedient diesen Mythos. Das um sein Soloalbum gestrickte Narrativ lautet, dass es die Platte eigentlich nie hätte geben sollen. Man kennt ja die Geschichte: das Hauptprojekt hat gerade Pause, aber der rastlose Künstler kann nicht ruhen, so sehr brodelt die Kreativität in ihm. Und so veröffentlicht der Kasabian-Songwriter nun Musik im Alleingang, während er natürlich schon fleißig Songs fürs nächste Band-Album sammelt.
"The S.L.P." ist fast schon ein kleines Familienprojekt. Co-Produzent ist Kasabians Tourgitarrist Tim Carter, das Design kommt von Aitor Throup, der die visuelle Komponente der letzten drei Kasabian-Alben leitete. Schauspieler Stephen Graham, im "You're In Love With A Psycho"-Video zu sehen, spielt in Teleshopping-Promoclips mit. Einzig auf den Auftritt von Pizzornos best Buddy Noel Fielding wartet man bisher.
Gleich das Intro "Meanwhile... In Genova" holt perfekt die alten Fans ab. Wie alle weiteren "Meanwhile"-Interludes der Platte lag es als Rest eines nie umgesetzten Filmmusik-Projekts auf Pizzornos Laptop herum. Für "Meanwhile... At The Welcome Break" wurde im Nachhinein Slowthai verpflichtet. Die Interludes erden das wilde Geschehen um die zahlreichen Stil-Snippets auf dem Album. Der Morricone-Flair ruft immer wieder die Psych-Rock-Momente hervor, die einen daran erinnern, dass man hier die Musik des Typen mit der coolen Frisur von Kasabian hört.
Die Frisur ist mittlerweile durch einen Leopardenmuster-Undercut ersetzt worden und auch sonst nimmt "Lockdown" direkt eine andere Wendung. Pizzornos helle Stimme kontrastiert mit dunklen Bässen, mehr erstmal nicht; dann fahren verzerrte Gitarren dazwischen und das Stück entwickelt schwere Soul-Vibes. Wahrlich ein absoluter Geniestreich, nur diesmal nicht von Pizzorno, denn die Musik stammt von Inflo, einem britischen Musiker und Produzenten, unter anderem des letzten Albums von Little Simz (die später selbst noch zu Wort kommt). Inflos einzig auffindbarer Track "No Fear" zählt auf YouTube nicht mal 5000 Aufrufe. Kann nicht sein, viel zu gut, darum: ändert das.
"((trance))" macht in ähnlicher Stimmung weiter, mixt aber lockere Pop-Melodien dazu. Die epische Gospel-Sommer-Melancholie steht Pizzorno sehr gut. Man könnte fast meinen, man hätte das Motiv des Albums gefunden, nämlich modernen Pop mit verwischten Motown-Spuren, aber dann schießt "The Wu" als Uptempo-80s-Noise-Dancefloorfiller dazwischen: "We keep moving till our eyes roll back". Auch "Soldiers 00018" steht unter deutlich härterem Synthie-Einfluss; namentlich unter dem von Lil Silva, einem Londoner Club-Pop-DJ aus dem Dunstkreis von SBTRKT und Produzent von Banks.
Schon in der Mitte des Albums glaubt man kaum, was man gerade alles erlebt hat. Praktisch daher, dass man "Nobody Else", "Favourites" und "The Youngest Gary" als Singles schon kennt. "Nobody Else" ist eine wunderschöne Liebeserklärung, die für Kasabian-Fans wohl die größten Wachstumsschmerzen verursachen dürfte: Poppig-hoffnungsfrohe Klavierakkorde, dazu einige "Yeahs" und "A-yoos" und ein kurzer Rap von Pizzorno. Man hört, er habe beim Songwriting so viel experimentiert, dass er sich mehrfach gefragt habe, ob das wirklich noch okay sei. Ja, es ist okay. Niemand hätte einen Haufen Kasabian-Songs gebraucht, denen einfach nur die Stimme von Tom Meighan fehlt.
Die Leadsingle "Favourites" ist vergleichsweise flach geraten, aber immer noch spaßiger als das Internetdate, an dem sich Pizzorno und Little Simz textlich abarbeiten: "You look taller in your profile pic!" "The Youngest Gary" featuret ein Sample der türkischen Female-Funkrockband Cici Kizlar aus den 1970er Jahren - noch nie vorher gehört? Ich auch nicht, aber Ehre, wem Ehre gebührt. Im Song tritt eine Bowie-eske Kunstfigur auf, die alleine durch die Straßen Londons zieht. Und zum Ende entblättert sich auch ein Basslauf à la 76er-Bowie, zu dem Gary ja wohl zumindest durch die Straßen Londons tanzen müsste.
Und wo wir schon bei Bowie sind und weil "The Youngest Gary" mit dem Zuschlagen einer Autotür endet, was so einen hübschen Schlusspunkt markiert, zurück zum Genie-Mythos. Denn natürlich ist eh allen klar, dass dieser Serge spätestens ein Genie ist, seit er beim englischen Fußball-Talkformat "Soccer AM" einen unvergesslichen Volleyschuss verwandelte und danach einfach wortlos aus dem Studio gegangen ist. "The S.L.P." ist sogar noch ein bisschen besser als dieser Schuss.
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