laut.de-Kritik

Wie Oliver Kahn auf Schalke.

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Das Publikum vermittelt den Eindruck, als hätte Oliver Kahn gerade das Spielfeld der Arena Auf Schalke betreten. "Uh uh uh uh uh" gibt es erregt von sich, als die Lichter ausgehen. Es handelt sich aber nicht um die Bundesliga, sondern um ein Konzert in Boston im September 2002. Die Rufe gelten nicht dem affigen Auftreten des "Torwart-Titans", sondern der verbliebenen Hälfte von The Who.

Nach dem Tod von Bassist John Entwistle geben sich Pete Townshend und Roger Daltrey alle Mühe, den Mythos weiter am Leben zu halten. Daltrey präsentiert sich in Höchstform, braun gebrannt und mit stählernem Bauch, Townshend wechselt von einer Stratocaster zur nächsten und rudert wild mit seinem rechten Arm in der Luft rum. Fast scheint es, als wären die guten alten Zeiten wieder da, zumal der Sänger auf Funk-Technik verzichtet und sein Mikrophon am Kabel in der Gegend rumwirbelt, Zakk Starr an Keith Moons Schlagzeug ein nobles Pedigree vorweisen kann und Bassist Pino Palladino Entwistles Linien beanstandungslos übernimmt.

Nachdem ihnen mit "Tommy" und "Quadrophenia" die monothematischen Platten ausgegangen sind, besinnen sie sich auf das, was eh alle hören wollen: die bekanntesten Lieder. Mit "I Can't Explain", "Substitute", "Anyway Anyhow Anywhere" und "Who Are You" beginnt der Auftritt recht spektakulär, obwohl Daltrey die Töne nicht richtig trifft und Townshend eher mit Show beschäftigt ist als mit Singen und Spielen – schließlich steht sein Bruder Simon im Hintergrund und steuert parallel Gesang und Gitarre bei.

Für die Hardcore-Fans spielen sie in der ersten Hälfte mehrere seltene Stücke, darunter "Another Tricky Day" und "Eminence Front" aus ihren wenig beachteten 80er Werken "Face Dances" und "It's Hard". Ihre 2004 veröffentlichten, John Entwistle gewidmeten neuen Stücke "Real Good Looking Boy" und "Old Red Wine" sind aber nicht dabei. Anschließend geht das Hitfeuerwerk munter weiter. "Behind Blue Eyes", "My Generation" und die abschließenden "Tommy"-Auszüge "See Me, Feel Me" und "Listening To You" kommen beim Publikum besonders gut an.

Ein weitgehend gelungener, zweistündiger Auftritt, der aber nicht an die Intensität des 2000er Konzertes in der Royal Albert Hall anknüpfen kann. Routine, nicht mehr. Dafür gibt es ein bisschen Bonus-Material. Die Porträts, die der verstorbene Bassist von seinen Bandkollegen, Jimi Hendrix, Rolling Stones und Rod Stewart erstellte, erinnern an Karikaturen von Beavis & Butthead.

Das Interview mit Daltrey verläuft bis auf die eröffnende Aussage recht ereignislos. "Meine erste Reaktion nach Johns Tod war 'scheiße, jetzt ist nur noch der Arsch übrig geblieben", meint er mit einem Augenzwinkern. Oder doch nicht? Jedenfalls gibt sich Townshend bewundernswert offen, erwähnt das eingestellte Kinderpornographie-Verfahren gegen ihn, erzählt von Entwistle und kündigt für 2005 ein neues Who-Album an. "Es wird die Dinge nicht groß verändern, aber geistlich wäre es schon eine nette Sache". Trotz aller Arroganz kann man ihm eines kaum absprechen: Er ist auf jeden Fall ehrlich.

"Live In Boston" zeigt eine Band, die sich noch nicht wieder gefunden hat – wie Townshend und Daltrey selbst zugeben. Aber sie sind nicht am Ende. Vielleicht gelingt es ihnen mit neuem Material tatsächlich, neuen Schwung in ihren Act zu bringen. 2006 sind sie bestimmt noch dabei. Was bei Olli Kahn alles andere als sicher ist.

Trackliste

Konzert

  1. 1. I Can't Explain
  2. 2. Substitute
  3. 3. Anyway Anyhow Anywhere
  4. 4. Who You Are
  5. 5. Another Tricky Day
  6. 6. Relay
  7. 7. Bargain
  8. 8. Baba O'Riley
  9. 9. Sea And Sand
  10. 10. 5.15
  11. 11. Love Reign O'er Me
  12. 12. Eminence Front
  13. 13. Behind Blue Ice
  14. 14. You Better You Bet
  15. 15. The Kids Are Alright
  16. 16. My Generation
  17. 17. Won't Get Fooled Again
  18. 18. Pinball Wizard
  19. 19. Amazing Journey/Sparks
  20. 20. Listening To You
  21. 21. Kapitel2=Extras
  22. 22. The Art Of John Entwistle
  23. 23. Interview mit Roger Daltrey
  24. 24. Interview mit Pete Townshend

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