laut.de-Kritik

Yorke nähert sich seinen unterbewussten Ängsten.

Review von

2006 veröffentlichte Thom Yorke mit "The Eraser" ein Album, das mit seiner reduzierten elektronischen Ausrichtung immer ein wenig im Schatten seiner Hauptband Radiohead stand. Zu sehr atmete es noch deren Geist, was sich auch thematisch widerspiegelte, wenn es um die Entfremdung des Individuums in Zeiten des unaufhaltsamen technologischen Fortschritts ging. Trotzdem stellte das Werk durchaus eine Erweiterung des klanglichen Horizontes des Briten dar.

Mit dem noch etwas vielseitigeren "Tomorrow's Modern Boxes" von 2014 traten dann, wie bei seinem Seitenprojekt Atoms For Peace, tanzbare Einflüsse deutlicher in den Vordergrund. Allerdings deutete sich diese Entwicklung spätestens ab Radioheads "The King Of Limbs" (2011) an. Im Grunde genommen fand Yorke als Solokünstler damals noch nicht ganz zu einer eigenen Handschrift. Das ändert sich nun mit "Anima" dann doch allmählich.

Dabei entstanden die Tracks zusammen mit Stammproduzent Nigel Godrich unter Live-Bedingungen im Studio. Der bastelte aus Skizzen kurze Samples, die sich wie ein roter Faden durch die Platte ziehen. Dazu fungiert Yorkes fragile Stimme als ein zusätzliches Instrument. Die Scheibe zeichnet vor allem eine melancholisch dunkle Grundstimmung aus, die sich oftmals ins leicht Zuversichtliche verschiebt.

"Traffic" hätte man aber zunächst mit seinen verschachtelten Beats, rotierenden Synthies und Handclaps auf einem Radiohead-Album vermutet, zumal die Nummer noch äußerst gesangsbetont klingt. Da gestaltet sich die stets auf- und abebbende Songstruktur in "Last I Heard (...He Was Circling The Drain)" schon weitaus spannender. Des Weiteren geistern immer wiederkehrende Stimmfetzen zu dystopischer Elektronik mysteriös durch das Stück. Dadurch stellt sich Beklemmung ein.

"Twist" entführt dann zu Beginn mit pluckernden IDM-Sounds und unterschwellig bedrohlichen Synthies in den hektischen Großstadttrubel, gewinnt allerdings ab der Mitte mit tiefem Piano, cineastischen Einschüben und songdienlich eingesetzten Kinderchören fortwährend an Emotionalität. So bekommt man für einen kurzen Moment das Gefühl, in dieser befremdlichen Welt angekommen zu sein.

Dagegen macht sich im folgenden "Dawn Chorus" paranoides "Kid A"-Feeling breit. Unter Radiohead-Kennern dürfte sich der Track aber ohnehin schon längst herumgesprochen haben. Mit subtiler Elektronik und der erzählerischen Stimme Yorkes leitet es atmosphärisch in "I Am A Very Rude Person" über, das mit repetitiven Beatstrukturen, mantraartigen Gesängen und Geisterchören beinahe einer verhängnisvollen Zeremonie gleicht. Die Arbeit des Briten am Score zum Remake des Horrorfilm-Klassikers "Suspiria" aus dem letzten Jahr schlägt sich hier klar nieder.

Zudem bekommt man zunehmend den Eindruck, dass er mehr aus seinen eigenen Einflüssen und Ideen schöpft und weniger auf äußerliche Erwartungshaltungen Rücksicht nimmt. Je weiter das Werk voranschreitet, umso mehr möchten sich lästige Vergleiche mit seiner Hauptband gar nicht erst aufdrängen. Es lebt hörbar von seiner über die Jahre dazugewonnen Erfahrung als Sänger und Musiker. Alleine die hellen, gleichbleibenden Synthies und seine sich nach vorne schiebende Stimme in "Not The News" dürften Beweis genug sein. Das ähnelt eher Motiven zeitgenössischer rhythmischer elektronischer Musik als den noch oftmals versponnenen Klanggebilden Radioheads.

Höhepunkt des Albums bildet schließlich "The Axe", eine beklemmende Dance-Nummer, die mit schweren elektronischen Nebelschwaden und verzweifeltem Gesang Gefühle der Benommenheit und Desorientiertheit hervorruft. Die lädt demzufolge eher zum Tanz mit den eigenen Neurosen als in den Club ein. Da erweist sich das polyrhythmisch geprägte "Impossible Knots", das mit glasklaren Synthies und der hellen Stimmfärbung Yorkes mit fortschreitender Spieldauer mehr und mehr dem Licht entgegen strebt, als lebendiger Kontrast.

Unbeständig und schwankend beschließt dann "Runwayaway" das Werk: sehnsüchtige House-Beats, kraftwerksche Elektronik, tänzerische Streicher-Motive, die zwischenzeitlich ins Beunruhigende abgleiten sowie Gesangs- und Spoken Word-Samples führen zu einer Reise ins Ungewisse.

Zusätzlich existiert zur Platte noch ein von Paul Thomas Anderson ("Magnolia", "Boogie Nights") gedrehter Kurzfilm, der gerade auf Netflix läuft. Der kommt als düstere Choreografie für 55 Tänzer und Tänzerinnen daher und stellt so etwas wie eine Reflexion auf die unterbewussten Ängste des Sängers und Musikers dar, der sich im Film als gebrochener Mann wieder zurück ins Leben kämpft.

Der nötige Impuls geht dabei von einer Frau aus, die er in einer U-Bahn trifft, aber in den Menschenmassen wieder aus den Augen verliert. Er begibt sich auf die Suche nach ihr und findet sie letzten Endes in einer S-Bahn in Prag wieder. Am Ende nähern sie sich gegenseitig nach und nach an, so wie sich Yorke musikalisch seiner Anima anzunähern versucht.

Der Begriff fand ursprünglich in der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs Verwendung und steht nicht nur für das Weibliche in der Seele des Mannes, sondern auch für seine Beziehung zum Unbewussten insgesamt. Störungen dieser Beziehung äußern sich dabei etwa in Minderwertigkeitskomplexen, Depressionen und Wutausbrüchen. Letztere richtet der Brite unter anderem gegen den Brexit und gegen verantwortungslose Politiker, die untätig dem Klimawandel zusehen. "Show me the money / Party with a rich zombie", heißt es in "Traffic". Im Film sieht man dazu Anspielungen auf "Metropolis".

Aber auch losgelöst von den begleitenden Bildern und dem theoretischen Überbau funktioniert "Anima" in seiner Geschlossenheit und Eigenständigkeit ganz ausgezeichnet.

Trackliste

  1. 1. Traffic
  2. 2. Last I Heard (...He Was Circling The Drain)
  3. 3. Twist
  4. 4. Dawn Chorus
  5. 5. I Am A Very Rude Person
  6. 6. Not The News
  7. 7. The Axe
  8. 8. Impossible Knots
  9. 9. Runwayaway

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