laut.de-Kritik

Hinterlässt ein Gefühl tiefer ästhetischer Befriedigung!

Review von

Verursacht ein umfallender Baum auch Geräusche, wenn niemand ihm zuhört? Diese alte philosophische Frage führt ins Reich der Systemtheorie, die seit den 70er Jahren den Forscher als Bestandteil des Forschungsobjektes betrachtet. Die Beobachtung der Beobachtung sozusagen, die für einen konstruktivistischen Realitätsbegriff von zentraler Bedeutung ist: das beobachtende System steht in einem Verhältnis zum beobachteten System.

"Observing Systems" (beobachtende Systeme) betitelt das Tied & Tickled Trio ihre dritte Studioeinspielung in weiser Kenntnis dieser harten Kost. Dabei ist es mir ein Rätsel, weshalb ausgerechnet eine Jazzband Deutschland in Aufregung versetzt? Vielleicht weil sie aus dem Weilheimer Musiksumpf emporsteigen, aus dem sich auch The Notwist, Console, Enders Room, MS John Soda, Lali Puma, Couch u.a. ernähren? Vielleicht weil sie das einzige Trio sind, das aus 13 Leuten besteht? Oder vielleicht, weil sie "alles machen, was verboten ist, wenn man eine Jazzprüfung auf irgendeinem europäischen Konservatorium bestehen will."

Das Tied & Tickled Trio ist laut 'Jazzthing' angetreten, die Nation mit "unschicklicher Intensität, den Mut zu genialen Fehlern und funkelnden Melodie-Perlen im Dreck" zu beglücken. In ähnlicher Weise ejakuliert Zeit-Autor Ulrich Stock. Und auch LAUT reiht sich in die Schar derer ein, die einfach nichts Schlechtes an "Observing Systems" finden können.

Die CD ist vollgestopft mit organischem, melodiösem Instrumental-Jazz, der den erweiterten Hörgewohnheiten eines anspruchsvollen Mainstream-Publikums ebenso Rechnung trägt wie denen eines hartgesottenen Jazzfreaks. Die stimmungsvollen Mid-Tempo-Kompositionen fühlen sich dabei einzig der Intensitätssteigerung verpflichtet. Mit echten Musikern und live eingespielten Songs ist diese Aufgabe, die Computern nur durch viel Programmierarbeit beizubringen ist, leicht zu bewerkstelligen. Die Melodieperlen verschmelzen dabei mit dem 'Dreck' der Jazzimprovisation, deren Spannungsbögen sich mit viel Zeit über den zunehmend ekstatischen Bläsersätzen austoben.

Während die Computer für viele Songs ausgeschaltet bleiben, sind sie dennoch wichtiger Bestandteil der Tied & Tickled'schen Klangästhetik. Zur Beruhigung dienen deshalb in das Konzeptalbum eingeflochtene Zwischenspiele, die die spleenigen Spacejazz-Experimente Sun Ras ehren. Außerdem verweisen die drei "Radio Sun"-Interludes auf ein reales Forschungsprojekt, das solare Radiowellen in Musik übersetzt!

Insgesamt scheint die CD mit einer hartnäckigen Schicht Klebstoff ausgestattet zu sein, weigert sich doch meine Anlage beharrlich, etwas anderes in Empfang zu nehmen. Ich bin ihr nicht böse, denn "Observing Systems" hinterlässt bei jedem Hören ein Gefühl tiefer und langanhaltender ästhetischer Befriedigung. Und dann war da noch der Baum ... der keine Geräusche beim Fallen verursacht, wenn niemand zuhört. Denn ein Geräusch braucht ein Ohr, um wahrgenommen zu werden. Wo kein Ohr, da kein Geräusch!

Trackliste

  1. 1. The Long Tomorrow
  2. 2. Radio Sun 1
  3. 3. Revolution
  4. 4. Radio Sun 2
  5. 5. Freakmachine
  6. 6. Observing Systems
  7. 7. 3.4.E
  8. 8. Radio Jovian
  9. 9. Like Armstrong + Laika
  10. 10. Bungalow
  11. 11. Radio Sun 3
  12. 12. Memory Dub
  13. 13. Motorik
  14. 14. Ship Monk
  15. 15. Henry+The Ghosts

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