laut.de-Kritik
Zappa bitte mit Sahne.
Review von Yan VogelBereits im Sandkasten gibt es das übliche Überbietungsgeplänkel nach der Devise "Immer eins mehr als wie du". So muss es auch zwischen Roine Stolt und Neal Morse zugehen, wenn sie sich die Ideen um die Ohren pfeffern. Hier der blondgelockte Schwede mit stolzem Antlitz, dort der bärbeißige Messias. Beide auf ihre Weise prägend und unverzichtbar für die heutige Spielart des Progressive Rock.
Bei Transatlantic agieren beide als gleichberechtigte Partner, ergänzt in Punkto Songwriting um Marillion-Tieftöner Pete Trewavas. Damit das Ganze nicht in einen unhörbaren Frickelzirkus mündet, tritt Drummer Mike Portnoy als Schlichter und Papa Schlumpf auf und lenkt die Ideen in eine annehmbare Richtung.
Nach dem die Band im September 2019 die ersten Aufnahmen auf Band gebannt hat, stellt sich bereits die Frage: Was wäre, wenn wir genügend Material zusammen haben? Wir machen ein Doppelalbum! Im Laufe der Zeit, wir befinden uns in etwa im Frühling 2020, kommt Morse auf die Idee, die Platte zu kürzen, was wiederum auf Widerstand bei den anderen Bandmitgliedern trifft. Man einigt sich darauf neben der längeren Version, auch eine kürzere Variante zu veröffentlichen.
Der hier musizierende Frickelzirkus zeigt sich ohnehin veröffentlichungsfreudig. Allein von den vier Protagonisten erschienen in den vergangenen fünf Jahren mehr als zwanzig Alben, unter anderem mit Neal Morse Band, Marillion, Sons Of Apollo, The Flower Kings, The Sea Within und Flying Colors. Konzentriert man sich als Schreiberling allein auf diesen Output, ist der Lebensunterhalt bereits gesichert.
Einmalig und gleichermaßen gewagt mutet die Praxis bei "The Absolute Universe" an, erscheinen doch zwei Versionen. Eine mit einer Stunde Spielzeit ("The Breath Of Life") und eine gar auf die Länge eines Fußballspiels gestreckte Variante ("Forevermore"). Dabei variieren nicht nur die Länge, sondern auch das Songmaterial, die Texte, die Instrumentierung und die Gesangsaufteilung.
Als Blaupause für die Progrock-Mammuttour dient "The Whirlwind", ähnlich wie Spock's Beards "Snow" oder "The Similitude Of A Dream" von der Neal Morse Band. Ein songorientiert gestricktes Konzeptwerk mit musikalischen und textlichen Sinnzusammenhängen, ergänzt um Hörspielsequenzen. "The Absolute Universe" ist somit vergleichbar, aber gelingt Trewavas, Stolt, Morse und Portnoy auch ein ebenbürtiges Album?
Die transatlantischen Noten-Päpsten erreichen, dass keine Version gegenüber der anderen abfällt. Werfen wir einen Blick auf die Details. Nach der Ouvertüre lohnt ein Blick auf den ersten Track, der einmal mit "Reaching For The Sky" und einmal mit "Heart Like A Whirlwind" betitelt ist. Im ersten Fall docken die Dur-Akkorde vehement am Hörer-Hirn an und evozieren pure Begeisterung.
Im zweiten Fall stehen die Keys im Vordergrund, auch die harmonische Ausrichtung wirkt durch modale Einschübe brüchiger. Beide melodische Varianten greift die Gruppe jeweils im weiteren Verlauf auf. Das große Finale "Love Made A Away" klingt je nach melodischer Schattierung entsprechend einmal positiver und einmal nachdenklicher. "Owl Howl" basiert in beiden Fällen auf dem gleichen musikalischen Material, wirkt durch einen Jam-Part auf "Forevermore" aber epischer.
Für beide Versionen gibt es einige Alleinstellungsmerkmale, bspw. findet sich "Lonesome Rebel" nur auf der langen Version und "Can You Feel It" nur auf der Kurzen. Die Fortsetzung des Themas aus "Belong", in Form eines Satzgesanges à la Gentle Giant in "The Greatest Story Never Ends", bleibt "Forevermore" vorbehalten.
Fordernd fällt die Weltformel des Prog in beiden Fällen aus, wobei die lange Reise mehr zum entdecken und verweilen einlädt und die kurze Sause gerade durch tolle, für sich stehende Nummern wie "Higher Than The Morning", der Stolt-Nummer "The Darkness In The Light" oder dem von Portnoy performten "Looking For The Light" für Rauschzustände unter den Kopfhörern sorgt. Transatlantic klingen überbordend, aber zugänglich zugleich. Man könnte auch sagen: Zappa bitte mit Sahne.
Die Pop-affinen Zwillingsnummern "Take Now My Soul"/"Swing High, Swing Low" klingen wie typische Morse-Zeichen und gehen als kleine Hits in den Backkatalog ein. In der langen Version spinnen Morse und Co. "Swing High, Swing Low" durch die beiden folgenden Stücke "Bully" und "Rainbow Sky" zu einer Sixties-Suite im Stile der Beatles und Beach Boys weiter.
Textlich ergibt "The Absolute Universe" das bis dato stärkste Werk der Supergroup. Mehr denn je steht die Zerrissenheit des Menschen im Mittelpunkt. Diesmal flankiert von wegweisenden Entscheidungen in Zeiten von Klimawandel, Pandemie und den Folgen, die diese Prozesse mit sich bringen. Das interesselose Wohlgefallen an der Wahrheitssuche war gestern. Heute agiert man beständig zwischen Bevormundung und Befreiung. Willkommen in der Dialektik der Aufklärung.
Im Vergleich zu "The Whirlwind" ist die emotionale Fallhöhe geringer. Von reiner Pflichterfüllung zu sprechen, wird dem Projekt dennoch nicht gerecht. Es macht richtig Laune im transatlantischen Notendickicht nach dem Sinn des Lebens zu forschen.
Laut Portnoy besteht "The Absolute Universe" aus einem Song, wohlgemerkt ein äußerst umfangreiches Exemplar der Gattung Lied. Also: wenn Mama künftig ansagt, dass es noch ein Lied vor dem Schlafen gehen gibt, wisst ihr nun die Antwort.
2 Kommentare
vorweg: ich bin kein Progfan, hab aber die großen Namen seit Floyd und Yes oft genug hören müssen... Hab mir die BlueRay zugelegt, die kann man sehr verschieden bewerten: Musikalisch: Alles (!) genauso schon mal gehört, man weiß, was kommt und wenn nicht, fällt das in die Kategorie "Achja, so geht's auch..." Aber sehr professionell und recht geschmackssicher eingespielt.
Gesamterlebnis Blueray: Optisch im Heimkino ziemlich ansprechend, zusammen mit der Musik bestens (!) geeignet, gut, ahem, "vorbereitet" auf dem Sofa zu hängen und durch Raum und Zeit zu treiben Also: Musik von mir aus 3/5, Blueray Gesamterlebnis 5/5
Ach eins noch: Äh, Zappa????? Sahne???