laut.de-Kritik

Zwischen Traumerfahrung und Einschlafmusik.

Review von

Es hat sich einiges getan seit "A Thousand Mile", jenem Grammy-nominierten und mit Platin überzogenen Superhit, der die damals 22-jährige Vanessa Carlton schlagartig in die internationalen Mainstream-Mühlen spülte. 14 Jahre später verfolgt Carlton dieser Erfolg noch immer wie ein Gespenst. Nun gut, werdet ihr sagen, das ist eben die Crux des frühen Hits. Doch, Spoiler vorab: Auf "Liberman", ihrer ersten Veröffentlichung seit mehr als fünf Jahren, schwimmt sich Carlton endgültig frei und liefert ein unaufgeregtes, aber auch dezent gebrochenes Popalbum, das entspannt durch den ausklingenden Frühling gleitet. In ihren eigenen Worten: "Ich wollte, dass das gesamte Album einen Flucht-Charakter besitzt, so dass du es anwirfst und sofort in einen träumenden Zustand eintauchst."

Vanessa Carltons Kunst entspinnt sich auch 2016 noch zwischen zwei markanten Bausteinen: Da ist zum einen ihre Stimme, glockenklar, technisch versiert, mit kleinen Macken ausgeformt. Da ist zum anderen ihr Pianospiel, das in der Vergangenheit meist nur knapp am Klischee vorbeisegelte und oftmals brav in den Fußstapfen bekannter Vorbilder herum marschierte. Spannend ist Vanessa Carlton immer dann, wenn sie die alten abgefahrenen Gleise verlässt, abbiegt oder abbremst. Manchmal wünscht man sich fast, dass die Sängerin einen Song mal so richtig gegen eine Wand fahren würde. Einfach um zu sehen und zu hören, wie sie auf die Entgleisung und den Gefahrenmoment reagieren würde und welche Entwicklung ihre Musik abseits der gesicherten Blasen nehmen würde. So weit kommt es auf "Liberman" leider nicht. Der Absprung und das Potential wird hier leider nur angedeutet – und sorgt doch für einige intensive Songsequenzen.

Zum Auftakt etwa offenbart uns Carlton einen elektronisch sphärischen Spacesound, der zunächst ohne sie auskommen muss. Erst dann übernimmt Carltons Stimme das zuvor ausufernde Soundgebilde von "Take It Easy" und näht die offen stehenden Fäden spielerisch zusammen. Beim Hören von "House Of Seven Swords" bauen sich dann erstmals die angesprochenen Traummotive auf. Alles hier klingt ein wenig verformt, ein wenig zu fluffig und abseits der Norm. Trotzdem erkennt man als Rezipient, ähnlich wie ein Träumender, immer wieder Versatzstücke des Realen. Etwa dann, wenn sich ein Glockenspiel über dem Song ausbreitet. Das mit dem Abtauchen und Wegdriften funktioniert jedenfalls prächtig. "Liberman" könnte problemlos der Soundtrack eines Fantasy-Films der Marke "Avatar" darstellen. "Ascension" zum Abschluss sticht dann nochmal wirklich hervor: Das Stück gründet in Pianogeklimper, das aber im Hintergrund von verschiedenen Klangfiltern abstrahiert wird. Dazu tänzelt eine nun selbst höchstgradig verträumte und ihrerseits eingelullte Vanessa Carlton durch die Klangwelt und entwirft einen Folksong, der auch aus Sufjan Stevens Feder stammen könnte.

Ein entscheidender Faktor für die Scheibe ist Produzent Steve Osborne, der in der Vergangenheit auch für U2 oder New Order arbeitete und dementsprechend für einen gewaltigen 80er/90er-Jahre Synthie-Avantgarde-Pop einsteht. Auf "Liberman" aber hält sich Osbourne, der sich auch auf vier Songs als Songwriter beteiligte, angenehm zurück und beweist dabei Fingerspitzengefühl und Timing. Die Platte jedenfalls klingt rein technisch großartig, auch kleine Details und Nuancen sind feingliedrig und detailliert herausgearbeitet und ermöglichen dem Rezipienten einen uneingeschränkten Hörgenuss. Auch Carltons bereits angesprochene Stimme kann in diesem Soundgebilde besonders glänzen und präsentiert immer wieder neue Spielarten und Varianten, die sich aber stellenweise zu arg auf die Produktion verlassen und beinahe zu perfekt klingen. Ihr seht schon: Wir drehen uns im Kreis.

So gelingt Vanessa Carlton ein wirkliches nettes Album. Und das ist jetzt nicht im Sinne von "nett ist der kleine Bruder von Scheiße" gemeint, sondern wortwörtlich zu verstehen. Das Album rotiert angenehm vor sich hin. Es gibt wenige Momente, die abfallen, aber auch wenige Momente, die dich als Hörer aus den Socken reißen.

Carltons formuliertes Ziel ist eine angenehme Hörerfahrung, die die Welt und die Probleme um dich herum zumindest temporär vergessen lässt. Das ist ein hoch gestecktes Ziel und oftmals ist die Grenze zwischen Traumerfahrung und Einschlafmusik ein schmaler Grat. Aber alleine Carltons unspektakuläre Einstellung zum eigenen Werk ist wirklich sympathisch. Passend dazu stellt die Künstlerin klar: "Dieses Album hält dazu an, das Gute im Menschen zu sehen." Ich würde sagen: Auftrag erfüllt!

Trackliste

  1. 1. Take It Easy
  2. 2. Willows
  3. 3. House of Seven Swords
  4. 4. Operator
  5. 5. Blue Pool
  6. 6. Nothing Where Something Used to Be
  7. 7. Matter Of Time
  8. 8. Unlock The Lock
  9. 9. River
  10. 10. Ascension

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