laut.de-Kritik
Vocal Jazz vom Feinsten mit sehnsüchtigen Tunes.
Review von Nicole Mons"Musik ist die Stenographie des Gefühls", so sprach Leo Tolstoy in einer Rede am 12. Juni 1905, fünf Jahre vor seinem Tod. Wenn der Gute geahnt hätte, wie sehr sich dieser feine Aphorismus an der Musik seiner eigenen Ur-Urenkelin hundert Jahre später bewahrheiten sollte, hätte er gewiss aufrichtige Freude verspürt. Denn nichts trifft besser auf die neue Produktion von Viktoria Tolstoy zu, der recht erwartungsvolle Schatten voraus eilten.
Nach der im Januar 2004 erschienenen CD "Shining On You", an der Jazz-Ikone Esbjörn Svensson und sein Trio beteiligt waren, kündigt Viktoria mit der nun vorliegenden Scheibe "My Swedish Heart" an, dass diese insgesamt als eine Liebeserklärung und Hommage an die großen schwedischen Jazzer zu verstehen sei.
Sie setzt sich auf "My Swedish Heart" intensiv mit der heimatlichen Jazztradition der letzten fünf Dekaden auseinander und verknüpft sie in geschickter und sympathischer Weise u.a. mit schwedischem Volksliedgut. Immer zur Seite: ihr Ehepartner Per Holknekt, der im Übrigen für die englischen Übersetzungen vieler Texte verantwortlich zeichnet. Vorweg gesagt: ich empfinde manche Transformationen ins Englische als eher störend. Man muss nicht alles anglisieren, um es weltkompatibel zu machen.
Aber schauen wir auf die anderen Protagonisten dieses Albums: Da wären Jacob Karlzon am Grand Piano, Lars Danielsson am Bass und Cello, Peter Danemo hinter seiner feinen Geräuscheküche (die man hier recht trefflich 'Percussions' nennen darf) und natürlich Ulf Wakenius mit der akustischen Gitarre. In einigen Songs hat Nils Landgren seine Posaune in den Vordergrund geblasen, Ale Möller durfte seine Querflöte zaubern lassen. Besonders auffällig ist, dass die 16-köpfige Göteborger "Bohuslän Bigband" so dezent mitmischt. Viktoria setzt die rekrutierte Combo bezaubernd pointiert ein, unauffällig, fast zurückhaltend. Das macht ziemlich an!
Fünf der elf Kompositionen stammen von Freunden und Kollegen der Schwedin russischen Ursprungs. Sie alle haben gemeinsam, dass sie heute zu den wichtigsten Ikonen des "Jazz Made in Sweden" gehören: Anders Jormin, Lars Danielsson, Jacob Karlzon und natürlich Esbjörn Svensson. Nicht zu vergessen der Produzent der vorliegenden Scheibe: Nils Landgren.
"Grandmas Song" stellt eine Verbeugung vor Jan Johansson dar, der das schwedische Volkslied "Visa Från Järna" vor ziemlich genau 40 Jahren im puristischen Duo aus Piano und Bass performt hatte. Arne Möller und Lars Danielsson haben dieses Lied für Viktoria neu interpretiert, leider auf Englisch. Es gibt Dinge, die sollte man nicht formwandeln. Genau wie man Shakespeare einfach nicht ins Deutsche übersetzen kann. Da bleibt der Charakter auf der Strecke.
"Mind If I" swingt sehr free. Ziemlich schwer, einen Zugang zu finden. Das Stück wäre eher – sorry – einer Liza Minelli auf den Leib geschrieben, als diesem Ensemble. Oder ich habe den Song einfach nicht verstanden?
Das absolute Highlight des Albums ist zweifellos die geniale Nummer drei: "From Above" ist das leibhaftige Zeugnis der Jazz-Alliance, wie sie sich in den Nilento-Studios in Kållered bot: Vocaljazz par excellence mit allen Registern. Umwerfend gut! Wie hier die Vollprofis der Bohuslän Bigband ihre dezente Zurückhaltung voll ausspielen, ist mehr als beeindruckend. "From Above" hat wundervoll sehnsüchtige Tunes, macht Tempo und pointierten Druck. Ein wundervoller Song!
Sehr gefällt "Den Första Gång", das wie "Jag yet en dejlig Rosa" mit schwedischen Lyrics produziert wurde. Hier kommt vor allem Nils Landgrens Posaune im Lead zum Einsatz, zur rechten Stelle dezent untermalt von anderen Bläsern. Das ist richtig schön und liebenswert gedankenversunken!
Fazit: Feiner Jazz mit musikalischer Tiefe - ein hochinteressanter musikalischer Tauchgang im artenreichen Barrier Reef der heutigen Szene und eine bemerkenswerte Produktion mit gewissem Suchtpotenzial. Wie schade, dass Viktorias sophistischer Ur-Urgroßpapa Leo ihren anspruchsvollen Werken nicht mehr lauschen kann.
28 Kommentare
Hallo Nicole: Feine Rezension! Hab' mir grade Tickets für die Tolstoy-Veranstaltung am 9. Mai (Tränenpalast Berlin) reserviert. Da werd ich mir die Scheibe (voraussichtlich) zulegen. So kann ich zu der Musik nichts weiter sagen. Schaun wir mal bis dann.
btw.: Fehlt im Absatz: "Fünf der elf ..." an der Stelle "Sie alle habe gemeinsam..." nicht das "n" bei haben? Fass es bitte nicht als Krittelei auf. Vielleicht wars ein Tippfehler und man kann das noch korrigieren.
http://www.laut.de/lautstark/cd-reviews/t/…
das verlorene "n" ist jetzt auch drin
danke für den Hinweis.
@ kukuruz
danke schoen !
uebrigens , wenn du schonmal einen vorgeschmack haben magst:
hier ein paar links.
kleiner minimalistischer video clip (http://www.hopper-management.com/video/vid…)
"frome above" (http://www.wendo-rav.de/gifs/berny/from-ab…)
und last but not least ein einblick in das wunderschoene nilento-studio in kållered, keine 10 autominuten von hier
www.nilento.se (http://www.nilento.se/studio/index.html) in idyllischer lage und tollen raeumlichkeiten incl. steinway fluegel. etwas fuer geniesser
etwas schade, dass die hochstehende cd bei laut so unter "ferner liefen" behandelt wird. sarah connor schrott scheint aber einfach mehr cklicks zu machen
joah . . und so wunderschoen prominent angeteasert
und kukuruz hat post ! (pm)
Wer was an Viktoria Tolstoy findet wird bestimmt auch
Jane Monheit (http://www.laut.de/wortlaut/artists/m/monh…) mögen. (Läuft grad eine Konzert-Aufzeichnung im TV)
Gestern war sie im TV (Jazz oder Nie, Bayern 3 Alpha), habs leider verpasst ... aber vom 30.12.06 bis 1.1.07 gibts von "Jazz oder Nie" lange Jazz-Nächte zum Jahreswechsel, u.a. Viktoria Tolstoy nochmal
--> http://www.br-online.de/alpha/jazz/mehr-ja…