Das feine Indie-Festival in Mannheim begeistert mit spannenden Künstlern und viel Hitze.
Mannheim (rnk) - Timo Kumpf hat seit Jahren gut zu kämpfen. Sei es die Pandemie oder an diesem Wochenende auch mal die Hitze. Der adrett gekleidete Festivalveranstalter läuft aber über das staubtrockene Mannheimer Maimarkt-Gelände, als ob er nur einen Kindergeburtstag und nicht eines der namhaftesten Indie-Festivals leiten würde. Das Maifeld Derby ist sein Baby und wird auch weiterhin gegen die Übermacht der riesigen Festivals verteidigt.
Der erste Abriss
Dieses Jahr fällt das Event auf den ersten Blick etwas unspektakulärer aus, aber eigentlich war das Maifeld Derby eh immer eine Entdeckungsreise durch viele Genres. Und so trifft man hier eben eventuell auch auf seinen neuen Lieblingsact. Sedvaliza ist am Freitag so eine Kandidatin. Die niederländisch-iranische Sängerin begeistert mit Electro, der an Grimes erinnert. Mit der bekannten Künstlerin teilte sie bereits eine Bühne und kommt ihr in Sachen Präsenz schon recht nahe. Die Besucher:innen kommen zwar schon am ersten Festivaltag, der sich schon fast unerträglich heiß anfühlt, an den Siedepunkt, aber auch ein Mash-up aus Sedvalizas eigenem Stil und Samples von Prodigy bringen den ersten Abriss des Tages.
Aggro-Rap
Bei den Chaoten von Death Grips ist bis zuletzt Skepsis angesagt. Die Band genießt ja nicht gerade den Ruf, besonders einfach zu sein, doch tatsächlich steht MC Ride, mittlerweile durch Einnahme von diversen Substanzen schon zum Meme geworden, mit weit aufgerissenen Augen auf der Bühne. Das fiese Rot der LED-Wand passt perfekt zum Aggro-Rap-Sound, direkt vor der Bühne brüllen die Fans fanatisch die Songs mit. Keine Ahnung was nötig war, damit eine der härteren Gruppen überhaupt ein so beachtlich kohärentes Set ohne Allüren hinlegt.
Ähnlich rabiat geht es bei Zulu zur Sache, die mit rohem Hardcore ihre politische Wut beeindruckend auf die Bühne des Hüttenzetltes bringen. Der gewaltsam zu Tode gekommene George Floyd ist leider längst wieder raus aus den Schlagzeilen, aber für die Jungs aus L.A. allesamt PoC, geht der Kampf erst richtig los. Nach so viel Testosteron tut der Kontrast mit Bat For Lashes gut. Am Anfang steht nur Natasha Khan ohne Band auf der Bühne und singt ihren kunstvollen Art-Pop. Es war gar nicht so einfach, die Britin zu buchen, doch 2023 hat es es endlich geklappt: Ein absoluter Glücksfall, und der würdige Abschluss des ersten Tages. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft verliert fast zeitgleich gegen Polen, die Festivalbesucher:innen gewinnen hingegen ein besonderes Konzert hinzu.
Da steht ein Pferd auf dem Floor!
"Da steht ein Pferd auf dem Floor", so der Claim des Maifelds. In der grünen Bahn Mannheims stehen tatsächlich Palmen und weiteres Grünzeug im Waggon. Ein Zeichen für Nachhaltigkeit, eine tolle Idee und spart auf einer Strecke von 25 Kilometern rund 320 Kilo Kohlendioxid ein. Dafür schwitzt der Derby-Fan geschätzt vier Liter Wasser aus, an den Wasserstellen darf das wirklich sehr benötigte kühle Nass aber abzapft werden. Ansonsten gab es vor dem Festival noch einen anderen Slogan: "Der Bierpreis bleibt stabil!". Eine Empfehlung sollte man bei Temperaturen um die 31 Grad zwar nicht aussprechen, aber die Helfer:innen vom Roten Kreuz müssen trotz dieser Bedingungen kaum ausrücken.
Noga Erez kommt mit diesen Bedingungen ebenfalls gut zurecht und überzeugt trotz Gluthitze im Palastzelt mit eigenem Rap-Stil. Das "Industry Baby"-Cover von Lil Nas X kennt man, mit "Sad Generation" ist auch ein neuer Song dabei. Kollege Schuh schwärmte bereits im Vorfeld vom "Tel Aviv State Of Mind", nun gibt es einen Fan der israelischen Künstlerin mehr.
Sauna-Niveau im Zelt
Dagegen flacht der Auftritt von Loyle Carner etwas ab. Das Set ist solide, aber begeistert nicht so sehr wie auf Platte. Liegt aber vielleicht auch daran, dass nun endgültig Sauna-Niveau im Zelt erreicht ist. Den Cool-down bringen dann Warpaint, die stoisch auf der Bühne stehen und mit ihren Post-Punk die Dämmerung einleiten. 2014 waren die Amerikanerinnen schon mal hier. Das aktuelle Album "Radiant Like This" schrieb man noch einzeln isoliert im Homestudio, nun sind sie gemeinsam auf der Bühne wieder eine Macht.
Die Krone geht an - Phoenix
Die Krone an diesem Tag geht trotzdem an Phoenix. An der Stelle muss erwähnt werden, dass Wolfgang Amadeus Phoenix noch immer der beste Indie-Pop der Nuller darstellt, vielleicht sogar der vergangenen 20 Jahre. Sobald die ersten barocken Takte von "Lisztomania" erklingen, und Sänger Thomas Mars wie 2009 auf der Bühne tanzt, ist alles wieder so großartig wie damals. Wenn dann noch bei "Love Like Sunset" eine Fahrt durch den Kosmos im Hintergrund auftaucht, wähnen sich die Fans endgültig jenseits von Zeit und Raum.
Kung Fu-Moves und schmutziges Grinsen
Wie heiß kann es in der Mannheimer Innenstadt eigentlich noch werden? Es hilft alles nichts, der finale Sonntag steht an. Die Strategie: Noch mal präventiv die Sonnencreme-Tuben leeren und vor dem Betreten des Festivalgeländes einen Kanister voll Flüssigkeit in den Körper schütten. Heute darf Baxter Dury beweisen, wie leidensfähig ein Künstler sein muss: Nicht lange und er steht mit Unterhemd vor der verschwitzen Menge. Die kommt beim entspannten Crooner-Gesang zum Glück ohne große Bewegung aus, ein Großteil liegt eh schon seitlich auf dem Boden. Relaxtes Nicken ist angesagt. Der Zögling von Ian Dury bringt das alles sehr geschmeidig nach Hause. Der Mann würde wahrscheinlich noch während einer Atom-Apokalypse unbeirrt seine Kung Fu-Moves ausführen und dabei schmutzig grinsen.
Die Franzosen von Phoenix bleiben trotzdem das Festival-Highlight, aber auch ihre Landsmänner von M83 gehen nicht kampflos von der Bühne. Wie erwartet gibt es eine imposante Lightshow, stark angelehnt an den Achtziger-Fetisch von Sänger Anthony Gonzales. Der Überhit "Midnight City" spült dann sogar die Leute flutartig Leute von draußen ins Zelt. Wenn schon dehydriert, dann wenigstens im Halbkoma im Synthie-Pop-Rausch.
Auf das Derby ist Verlass
Mit Interpol gehen dann die Maifeld-Lichter für dieses Jahr aus. Die New Yorker Indie-Legende erfüllt die Erwartungen, bleibt dabei aber auch sehr routiniert. Paul Banks geht im Halbschatten und mit verspiegelter Sonnenbrille als Sisters Of Mercy-Lookalike von Andrew Eldritch durch. Beide vermitteln auch in ihrer Bühnenpräsenz den Eindruck, nicht unbedingt viel Spaß am Leben zu haben: Also genau das, was diese Band und ihre schockgefrorenen Songs ausmacht. Nicht gerade ein Feuerwerk, aber auf die Amerikaner ist immer Verlass. Genau so, wie auf das Maifeld Derby, dessen heimelige Atmo man richtig liebgewonnen hat, war man einmal vor Ort: Ob heiß oder kalt, eine der letzten Bastionen gegen die großen Festival-Player im Markt.
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