laut.de-Biographie
Alcest
Der Wikipedia-Eintrag zu Black Metal: Subkultur des Metal, die Ende der 1980er in Norwegen und Schweden entstand. Der schwer zu begrenzende Begriff wird für Bands verwendet, deren Image, Auftreten und Texte eine Verbindung satanischer, heidnischer oder misanthropischer Elemente aufweisen. Der Wikipedia-Eintrag zum U-Turn: Fremdwort für ein Fahrmanöver mit Skateboard oder PKW, bei dem eine 180-Grad-Drehung vollführt wird (U-Drehung), um die Fahrtrichtung zu wechseln.
Alcests Stilwandel vom Black Metal zu lebensbejahendem Shoegazertum muss man sich in etwa so vorstellen: Mit 200 km/h die Bahn entlang brettern, Anlage auf Anschlag, Amokfahrt. Dann plötzliche Selbstreflexion, die Entdeckung der eigenen Sensibilität, Vollbremsung. Über die Planke, rauf auf die Gegengerade, rein in den Gegenverkehr. Aber diesmal bei Mindestgeschwindigkeit und mit barmherzigen Lächeln auf dem Gesicht.
Alcest ist seit Ende der Neunzigerjahre das unberechenbare Projekt des Südfranzosen Neige. Aus Avignon stammend und 2005 mit der Mini-CD "Le Secret" bereits zu achtbarem Erfolg in der schwarzen Szene gekommen, bricht der schmächtige Langhaarträger zwei Jahre darauf komplett mit dem Untergrund. "Anfangs habe ich Alcest ins Leben gerufen, weil ich Black Metal wirklich liebe. Ich wollte selbst so etwas erschaffen. Ich schrieb vier Tracks, die sich alle um die Tristesse des Winters drehten."
Bis der Frühling in sein Gemüt zieht und es sich dort gemütlich macht. Statt brutaler Blastparts und Bassdrum-Feuer entdeckt Neige seine innere Fragilität – die Musik dreht sich um 180 Grad. "Seitdem entstehen aus dem Projekt esoterische ätherische und nostalgische Klänge, die auf etwas basieren, was ich als 'Erinnerungen an ein vorheriges Leben' bezeichnen würde." Eine treffende Umschreibung für Alben wie "Souvenirs D'un Autre Monde", auf denen das Glückselige der Kindheit zelebriert und Fantasiereiche voller Harmonie errichtet werden.
Alcest steht heute für dicke Schichten von Shoegazing-Gitarren, weißes Rauschen und glockenklare, Sigur-Rós-artige Gesänge. Das brachiale Moment ist beinahe völlig in den Hintergrund getreten, schimmert nur für kurze Augenblicke durch die wall of sound.
"Diese hellere Seite habe ich schon immer in mir getragen. Ich denke bis heute, dass es sehr aufregend ist, mit Musik Plätze, Bilder, Gefühle und Sensationen zu illustrieren, die weder von dieser Welt sind noch durch Worte beschrieben werden können", erklärt Neige.
Nicht unerwähnt bleiben soll der Umstand, dass Neige neben dem Hauptprojekt am ausnehmend düsteren Postpunk-Unterfangen Amesoeurs strickt. Denn "meine eigenen Träume erscheinen mir – im Gegensatz zu den Traumwelten von 'Souvenirs' - fast immer grau, stickig und deprimierend."
Bei Alcest hingegen treffen My Bloody Valentine auf Pelican auf Envy auf oben genannte Isländer. Im Ergebnis möglicherweise nicht die crème de la nouveauté, aber allemal ein angenehm einnehmender Ausstieg aus Alltagsstress und Schlechtwetterfront.
Diesem Prinzip bleibt der Franzose treu, holt sich aber mit einem Herrn namens Winterhalter einen festen Drummer ins Studio. Der spielt bei Les Discrets, mit denen Alcest 2009 eine Split veröffentlichen. Den nächsten, vollwertigen Longplayer legt der Franzose Ende März 2010 mit "Écailles De Lune" vor. Darauf geben erneut die ruhigen Klänge den Ton an, auch wenn die eine oder andere Eruption durchaus vorhanden ist.
Während Neige 2011 bereits an neuen Songs arbeitet, erscheint Ende Mai eine Neuauflage des Debüts. Darauf hat der Gitarrist und Sänger die beiden Songs noch einmal überarbeitet und neu aufgenommen, allerdings auch die alten Versionen wieder mit veröffentlicht. Da die EP damals nur im kleinen Rahmen aufgelegt wurde, hat das durchaus einen gewissen Sinn.
Auf "Shelter" (2014)" sind die Metal-Elemente fast wieder verschwunden - er sei damals stark von Slowdive beeinflusst gewesen, gibt Neige später zu Protokoll. Eine Phase, die Alcest 2016 auf "Kodama" zugunsten ihrer Blackgaze-Roots wieder hinter sich lassen. Inspiriert wird das Album von japanischer Kunst und Kultur.
In den darauffolgenden Jahren touren Alcest als Headliner rund um den Globus, schließen sich außerdem Anathema bei einer weiteren Europa-Tour an und bekommen von The Cure-Boss Robert Smith eine Einladung zu dessen Meltdown Festival. Schließlich spielen sie gar ihr erstes Konzert in Indien. Ausgerechnet beim Prophecy Fest schließen Alcest den "Kodama"-Zyklus 2019 ab – als sie gerade nach jahrelanger Zusammenarbeit mit Prophecy das Label gewechselt haben. Ab sofort veröffentlichen die Franzosen via Nuclear Blast.
Die ersten Früchte dieser neuen Verbindung fallen Ende Oktober 2019, als das sechste Album "Spiritual Instinct" erscheint. Musikalisch geht die Band den Weg von "Kodama" konsequent weiter, Neige erkennt darin sein persönlichstes Werk. "Es ist eine sehr kathartische Platte – etwas musste aus mir heraus. Sie ist düsterer als üblich und schwerer. Ich komme aus der Metalszene und sie ließ mich niemals wirklich los. Als Teenager nutzte ich Black Metal als einen Weg, von der Realität zu fliehen. Das liebe ich am meisten daran. Es ist die beste Art Musik, um überwältigende dunkle Gefühle auszudrücken. Normalerweise spreche ich in Alcests Musik nicht über meine Finsternis, aber diesmal musste ich es."
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