laut.de-Kritik
Let's party like it's 1999!
Review von Michael SchuhEiner jener Sätze, die im Musikjournalismus niemals aussterben werden, lautet: "Awolnation erfinden mit 'Megalithic Symphony' einen Crossover, der in bislang nicht gehörter Weise Elemente aus Synthie-Pop, Rock, Funk, Soul, (White Boy-) Hip Hop und Punk zusammen rührt."
Eine Floskel-Trompete vor dem Herrn. Dennoch ahnt nur der Insider, dass es trotzdem kein Satz aus der Promo-Info der Plattenfirma sein kann, schließlich fehlt das Adjektiv "kongenial". Außerdem haben Awolnation gar keine Plattenfirma. Zumindest nicht in Deutschland. Also behaupte ich das jetzt mal.
Das macht den Satz ästhetisch vielleicht nicht hübscher, aber, hey! Dieses eine Mal ist er nicht nur wahr, seine naive Syntax bringt auch schnörkellos auf den Punkt, in welcher Verfassung einen die Musik von Aaron Brunos Band Awolnation zurück lässt: entwaffnet, platt, leer.
Da ist zum einen dieser Overkill an Melodien, der schier nicht begreifbar ist. Ich meine, es ist 2011, und man hat doch sowieso schon alles gehört. Aber dann läuft der reguläre Opener "Soul Wars" und man denkt: Simian Mobile Disco, Bootsy Collins und Fun Lovin' Criminals in einem Song? Fett!
Und Bruno gleich mit Turbolader: "1-2-3 / do you love me? / watch me scream / burning on the trees / in amazement / cause I'm on fire": Ja Alder, genau, fire in the disco! Hat sich also doch gelohnt, dass ich den Kerl auf Facebook stalke, seit sich seine nicht minder geile Ex-Combo Under The Influence Of Giants aufgelöst hat.
Schon seit Monaten streame ich einzelne Songs, die Bruno immer mal wieder als Appetizer ins Netz ballerte. 2010 kam eine EP, die konnte schon Einiges, und seitdem nerve ich die Kollegen mit einem Glänzen in den Augen wie sonst nur Artur Schulz vor 'ner Annett Louisan-Veröffentlichung.
Mit "All I Need" fings an: Wie Bruno da engelsgleich von seinem Falsettthron herabsteigt, um sich zu einer Art Elektro-Gospel auf zurückhaltendem Elton John-Piano, federweichen Synths und, äh, Enya-Chorgesang als Balladenkönig feiern zu lassen, ist schon mal meisterhaft. Live fehlt da nur noch Depeche Modes "Never Let Me Down Again"-Arm-Choreo. Gütiger Himmel!
Der Song war auch schon auf der EP drauf, genau wie der Riot-Synthrocker "Burn It Down", bei dem Brunos gesangliche Variabilität komplett ins andere Extrem fällt. Der Mann liebt Refused und Madonna eben zu gleichen Teilen, und Awolnation lassen das noch mehr raushängen als UTIOG.
Ein Highlight jagt das andere: "People" weckt für Sekunden wohlige MGMT-Assoziationen, bevor man das Hirn ausschaltet und sich auf dem Dancefloor zum Affen macht. Die auf Akustikgitarren und funky Handclaps basierende Elektro-Soul-Symbiose "Guilty Filthy Soul" ist tatsächlich porentief dreckig. Im Pop-Manifest "Not My Fault" davegrohlt sich Bruno zum Refrain hin in Ekstase und nach dem "Live in the water / scared of the city"-Gänsehaut-Break mitten im Single-Brecher "Jump On My Shoulders" führt er praktisch einen ganz neuen Song ein. Wahnwitz galore, der Typ!
In Teilen kannte man das schon von seiner alten Band UTIOG: In einen Song steckt diese Popsau mehr Ideen als andere auf ein ganzes Album. Dass ich hier wild mit Bandvergleichen um mich werfe, dient sowieso nur der groben Orientierung, wirklich vergleichen lässt sich Awolnation mit niemandem.
Oder hat schon jemand mal eine 80s-Pop-Ballade gehört, die derart mit runter getuntem Synthiebass schiebt wie "Sail"? Die Melodielinie der Keyboards erinnert übrigens dezent an Foreigners "Cold As Ice", aber gut, lassen wir das.
"Let's party like it's 1999": Der Partykiller "Knights Of Shame" ist Brunos 14-minütiges Ausrufezeichen, das wie eine Jamsession fünf verschiedener Songs von noch mehr verschiedenen Künstlern klingt: Pop, Rock, Funk, Soul, White Boy-Hip Hop und Punk - äh, wiederhole ich mich? Mit 1999 hat das eher weniger zu tun, mehr mit den letzten 30 Jahren Musikgeschichte zusammen genommen.
Wie der selbsternannte Musikfanatiker Bruno, der sich neue Musik noch immer am liebsten auf Vinyl im Amoeba Records besorgt, das hingekriegt hat, versteht kein Mensch. Er selbst wagt in "Sail" eine Erklärung: "Blame it on my ADD" (ADHS).
Liebe deutschen Labels: Lasst den armen Mann nicht noch länger zappeln und gebt Awolnation endlich einen Plattenvertrag, damit wir "Megalithic Symphony" nicht noch monatelang hier streamen müssen.
"Wir wollten mehr Keyboards, mehr Soul und mehr Beats. Und ganz wichtig: Melodien! Es hat uns ein paar Jahre gekostet, diese Songs zu schreiben, aber da ist viel Liebe drin." Das sagte Aaron Bruno zwar schon 2007 in unserem Interview zum UTIOG-Debüt, ließe sich aber problemlos auch auf Awolnation münzen. Dig it now!
10 Kommentare
top abgefeiert, don miguel! und zurecht.
Hört sich für mich nach kurzem Quercheck wie der rotzige Bruder von Mika an, ohne das als Wertung zu meinen. Muss das Album mal in Ruhe durchhören.
What a ride! Da reiht sich Hit an Hit! Wäre ich nie drauf gestoßen. Danke.
"seitdem nerve ich die Kollegen mit einem Glänzen in den Augen wie sonst nur Artur Schulz vor 'ner Annett Louisan-Veröffentlichung"
Von mir gibt es auch noch eine sehr verspätete 5-Punkte-Wertung. Sehr starkes Album; freue mich schon auf "Run".
Sehe gerade, dass "plattentests.de" das Album mit 3/10 bewertet haben. Absurd.