2. Oktober 2009

"Warum findet laut.de uns so kacke?"

Interview geführt von

Heute erscheint "Code B", das zweite Soloalbum von Bela B. Wir trafen den Ärzte-Drummer zum Interview in Hamburg.Hamburg im August, 11 Uhr: Bela B. lädt die Journaille in ein uriges Café im Schanzenviertel, den Berliner Betrüger. Sogar uns. Das war nicht unbedingt zu erwarten, gab es doch nach unserer Rezension zur Die Ärzte-Platte "Jazz Ist Anders" einige Verstimmungen hinter den Kulissen. Aber dazu später.

Mein Interview ist das erste seines Promotages und das einzige vorm Mittagessen, was die schöne Begleiterscheinung zeitigt, dass man auch in der Pause noch gemütlich bei Pommes und Currywurst (Bio!) zusammen sitzt.

Schließlich gibt es auch ein gemeinsames Fan-Thema: Lee Hazlewood. Brachte es der Ex-Berliner fertig, die Country Exotica-Legende 2007 für sein Solodebüt "Bingo" zu gewinnen, durften wir den früheren Partner von Nancy Sinatra drei Monate vor seinem Tod noch in Las Vegas treffen.

Die Fachsimpeleien sind schnell an einem Siedepunkt: Vegas-Anekdoten, Tribute-Album-Diskussionen ("Da hätten ruhig mehr Pop-Künstler drauf sein können, nicht nur alles, was links und rechts von Pavement existiert") und Sammler-Nerdtalk. Womit wir gleich bei einer schönen Grundsatzfrage sind.

Bist du ein Vinyl- oder CD-Käufer?

Bela: Im Moment kaufe ich oft CDs, weil ich viel im Auto unterwegs bin. Ich hoffe aber, dass bei Vinylalben bald regelmäßig ein Code mitgeliefert wird, mit dem man sich die Platte dann für den MP3-Player downloaden kann. Aber ich persönlich hänge natürlich an Alben, klar.

Wobei mir jetzt bei "Code B" was Lustiges passiert ist: Wir tüftelten lange über dem Konzept für das Cover, diesem Spiel mit der Maske, besprachen die Möglichkeit, das Songbook in drei Teilen auszuklappen und abends ruft mich der Grafiker dann an und meint: Scheiße, wir haben vergessen, über Vinyl zu sprechen. Im LP-Format war der Entwurf gar nicht zu verwirklichen. Da dachte ich auch nur, du Heuchler, hälst ständig Vinyl hoch, produzierst aber bei vollem Bewusstsein für die CD.

Aber das sind eben Lernprozesse. Früher haben wir ne Fotosession gemacht, die eine Stunde dauerte und dann hatten wir das Frontcover. Die erste Ärzte-Platte "Debil" hat zwei Fotos, beide Male dasselbe Motiv, vorne, hinten, fertig. Oder denk mal an die Rolling Stones. Was waren das für herrliche Zeiten: Die haben drei Interviews gegeben und die Platte hat sich trotzdem millionenfach verkauft.

Apropos Interviews, eine Sache muss ich jetzt ansprechen: Es gab vor zwei Jahren ziemlichen Ärger zwischen laut.de und euch, als wir zum ersten Mal ein Ärzte-Interview zugesprochen bekamen. Mein Kollege, übrigens ein Ärzte-Fan, hatte "Jazz Ist Anders" vorher nur zwei Mal im Netz hören können, was ihm nicht aussagekräftig genug für eine vorschnelle Analyse erschien, so dass er mit dir in Berlin lieber über andere Dinge sprach. Nach dem Interview, als die Platte dann bei uns reinkam, fand er sie tatsächlich nicht so toll und hat sie ...

Verrissen.

Nun ja, er gab 2/5 Punkten.

Das ist ein Verriss.

Okay. Euer Label war auf 180, auch weil parallel noch eine Marketing-Kampagne lief. Uns wurde Unprofessionalität vorgeworfen, böse Absichten unterstellt, dabei war alles nur eine irgendwie verdammt missglückte Aktion. Ein Jahr später wurde uns Farins Soloalbum gar nicht erst zur Rezension geschickt. Da war ich doch sehr positiv überrascht, als plötzlich dieses Interviewangebot mit dir reinkam. Wir dachten eigentlich, Die Ärzte sind jetzt alle erstmal richtig sauer.

Gut, das ist scheiße gelaufen. Dazu ist erstmal zu sagen, dass wir schon früh damit begonnen haben, Journalisten, die die neue Platte nicht gehört haben, wieder nach Hause zu schicken. Denn worüber soll man sprechen? Heute gibt es natürlich ein vermehrtes Interesse an den Personen der Band. Bei dem Bela von heute ist ja viel mehr zu holen als bei dem Bela Anfang der 80er. Aber Interviews sind eben nicht unsere Hobbys, wir wollen schon auch über die Platte sprechen.

Was diesen speziellen Fall angeht, erinnere ich mich an zwei schlechte Kritiken: die eine kam in diesem Fall von euch und die andere von unserem Ex-Bassisten, der sauer war, dass ein persönliches Interview nicht geklappt hat. Wir haben damals dann halt gedacht: Was ist bei laut.de schief gelaufen, dass die uns so kacke finden? Ich bin mir nicht sicher, aber wurde "Bingo" bei euch nicht auch verrissen?

Nee. Aber das ist ja eh der Witz, Die Ärzte kommen bei uns sonst ja immer gut weg. Und überhaupt seid ihr doch längst in einem Stadium angelangt, in dem Kritik eigentlich gar nicht mehr vorkommt.

Mae West hat mal gesagt: Jede Presse ist gute Presse, so lange nur der Name richtig geschrieben ist. Daran sollte man sich halten. Klar, du kannst natürlich keine Platten veröffentlichen und hinterher den Leuten vorschreiben, dass sie die gefälligst toll zu finden haben. Es gibt zum Beispiel auch nicht nur positive Reaktionen auf meine neue Single, aber damit muss man umgehen können. Nicht umsonst hasse ich eine bestimmte deutsche Kinozeitschrift, weil man dort die Filmkritiken kaufen kann.

Sowas darf nicht sein und sowas wollen wir auch nicht, aber deswegen ist es uns trotzdem nicht egal, wenn man uns unter der Gürtellinie trifft. Es gibt natürlich Musiker, die kaum Interviews geben und sowas gar nicht an sich ranlassen. Mike Patton zum Beispiel. Aber wenn du eine Platte ganz frisch fertig hast, trifft dich Kritik schon, denn im Vergleich zu dem, der nach ein paar Mal Hören eine Rezension schreibt, hast du mit dem Album ja gute zwei Jahre gelebt.

Es treffen dich also auch zwei schlechte unter hundert guten Kritiken? Wir dachten halt damals: Da scheißen die drauf.

Müssen wir ja auch. Ich bin da jetzt nicht sonderlich nachtragend, deswegen sitzt du ja hier. Und eure Seite ist eben auch eine wichtige Informationsquelle für Musik. Ich lese ja auch mal das Ox, selbst wenn die den Ärzten auch nicht nur positiv gegenüber stehen. Wobei über die Jahre überraschenderweise immer mehr.

Okay. Das war also keine Entscheidung eures Managements, so nach dem Motto: Dieses laut.de lassen wir jetzt mal außen vor.

Nee, bei den Ärzten wird jedes Detail mit uns abgesprochen, da geht nichts raus, was nicht irgendwie an uns vorbei gegangen ist, auch die schlechten Sachen. Also, das Ganze war vielleicht nicht ganz cool von uns, aber man ist dann eben auch auf eine Weise getroffen als Künstler.

Und woher kommt das schlechte Feedback zu "Altes Arschloch Liebe"?

Feedback ist natürlich relativ, denn die Platte ist ja noch gar nicht draußen, aber man schaut dann ja schon auch mal im Internet. Und da haben sich schon viele gewundert, dass ich nicht mit nem Punkrock-Song zurück komme.

Der Songtitel ist natürlich geil, wo hast du dieses alte Arschloch Liebe denn gefunden?

Witzigerweise befinde ich mich im glücklichsten Stadium meines Lebens, obwohl ich zur Zeit weniger Schlaf kriege als in meinen schlimmsten Drogenzeiten. Aber man schöpft ja immer aus seinem Erfahrungsschatz. Und ich hatte schon länger den Wunsch, ein Anklagelied an die Liebe in der Form eines Kneipen-Streitgesprächs zu schreiben.

Ein Tag vor den Schlagzeugaufnahmen fiel mir der Song dann zu, es hat nur eine halben Stunde gedauert. Dann habe ich beschlossen: Das ist der letzte Song, den ich geschrieben habe und es wird der erste sein, den ich rausbringe. Und für die Zeile 'Liebe, du alte Scheiße' feiere ich mich auch selber ab.

Hast du nach all den Jahren nicht schon ein Gefühl entwickelt, dass dir sagt: Die Platte wird groß oder der Song könnte abgehen? Deine und eure Fans sind ja doch treue Seelen.

Es gibt die Komplettisten, die sich die Platte eh kaufen. Das ist ja auch ein Grund, warum mich eine Plattenfirma in Zeiten wie diesen unter Vertrag nimmt. Aber natürlich bin ich aufgeregt, denn die Platte ist sehr viel persönlicher geworden als die letzte. Hinzu kam, dass mir meine sehr intensive Beschäftigung mit der Gitarre nun viel mehr Möglichkeiten gibt.

Letztlich ist da ein Knoten geplatzt und am Ende hatte ich 34 Songs. Natürlich bin ich auch gespannt, ob die Platte abgeht, aber was geht heute denn noch ab? Ich glaube nicht, dass ich zehn Mal in den Charts sein werde, wenn ich mal sterbe. Obwohl, mit den Ärzten könnte das vielleicht passieren (alle lachen).

Mehr noch als bei "Bingo" kann ich mir einige Songs auf "Code B" nicht bei den Ärzten vorstellen, zum Beispiel "Hilf Dir Selbst" ...

Das ist natürlich Absicht. Schon "Bingo" erschien völlig losgelöst von den Ärzten. Gut, manche sagen, der ein oder andere Song könnte auch bei den Ärzten ... würde da aber anders klingen, keine Ahnung. Bei den Ärzten sind persönliche Dinge viel versteckter, oft auch hinter Ironie. Insgesamt bin ich dieses Mal vom Geschichtenerzählen eher weggekommen. Obwohl ich als der Chaot der Band gelte, gibt es bei mir diesen roten Faden, ein Konzept.

"Als Wir Unsterblich Waren" ist eine Ode an deine Jugend und den Sound jener Zeit. Hast du da insgeheim nicht auch an deinen alten Freund Farin gedacht, obwohl der damals sicher nie getorkelt ist?

(lacht) Also es geht zunächst schon um mein persönliches Empfinden. Aber das Lied lässt sich auch auf die Gegenwart, auf ein Gefühl übertragen. Es geht natürlich um die Musik, die mich geprägt hat und wie wichtig die einmal war. Gleichzeitig war alles andere ein Experiment, die Drogen, an denen viele kaputt gegangen sind. Gerade im Mauer-Berlin hatte man ja damals immer Angst, irgendwas zu verpassen. Du bist pennen gegangen und am nächsten Tag war alles ganz anders.

Ausgelöst hat den Text aber Tony Parsons' Buch "Als Wir Unsterblich Waren", das ich übrigens jedem ans Herz lege. Wenn dich musikbezogene Literatur dazu bringt, ein Instrument in die Hand zu nehmen, ist sie immer großartig. Der Titel beschreibt diesen Punkt in der Jugend, an dem man das Recht hat, nicht an die Zukunft zu denken und keine Angst vor dem Tod zu haben. Es ist also ein sehnsüchtiger Song, denn heute ist mir Vergänglichkeit sehr bewusst, damals wars mir scheißegal.

"Ich gebe keine Autogramme im Stadion"

Bist du ein nostalgischer Mensch? Googlest du deinen Namen manchmal bei Youtube?

Nee, ehrlich gesagt gar nicht. Aber zu Youtube gibts ne schöne Geschichte: Mit einem Freund diskutierte ich mal über Sinn und Unsinn der Hamburger Schule. Manches, was ich als aufgesetzt empfand, verteidigte er und es ging ziemlich heiß her, bis der Freund irgendwann sagte: So, und jetzt zeige ich dir mal, was du in dem Alter gemacht hast. Das war schon interessant, so ein bisschen wie in eine fremde Welt gucken. Ach ja, das haben wir ja auch gemacht. Oh, das war auch nah dran an der Prostitution. Aber ich schaue lieber in die nahe Zukunft und bin dankbar, was mir da passiert. Ich sehne nichts zurück.

"Schwarz/Weiß" ist meines Erachtens ein sehr guter Song auf "Code B", sowohl musikalisch als auch textlich. Strophe und Refrain begegnen dem Phänomen Schubladendenken da auf unterschiedlichen Wegen.

Gut, das Thema ist natürlich alt: Schwarzweiß-Denken ist ohne Frage ein absolutes Verbrechen. Über wie viele Menschen habe ich schon im Vorfeld geurteilt und mir dadurch interessante Erfahrungen verbaut. Dass ich nicht schwarzweiß denke, zeigt ja alleine schon der Umstand, dass ich hier mit dir ein Interview führe, mit dem Feind laut.de.

Es gibt aber Zeiten im Leben, vor allem wenn du jung bist, in dem Schwarzweiß-Denken durchaus legitim, wenn nicht absolut notwendig ist. Ich höre zum Beispiel von allen Leuten, wie nett der DJ Bobo ist, aber ich muss den echt nicht kennen lernen. Ich finde seine Musik schrecklich, das ist mein gutes Recht. Da muss ich also keine Toleranz üben. So entstand die Idee, das Ganze thematisch mal umzudrehen.

Auf dem Song sitzt ja der musikinteressierte St. Pauli-Spieler Marcel Eger am Schlagzeug. Wie kams?

Marcel war der erste Gast der Platte. Wir sind nicht eng befreundet, aber wir mögen uns. Irgendwann habe ich dann mal in der Zeitung gelesen, dass er Schlagzeug spielt und gerne mal auf einer Platte mitspielen würde. Wer schon mal auf seiner Webseite war, kann sich seine Begeisterung ausmalen. Er hat sich am Anfang ziemlich geziert und so, aber dann sagte ich: Das ist mir scheißegal, es geht hier auch um Namedropping, mein Freund! (lacht)

Es war natürlich seine erste Studiosituation und gleich mit dem Clicktrack zu spielen, war nicht ganz einfach. Er spielte den Drumbeat zum Playback. Wir haben dann Parts seines Spiels eingebaut. Ich hoffe, er kommt nachher noch kurz hier vorbei und holt sich die CD ab, denn er hat den Track noch gar nicht gehört. Es ging mir da auch nicht um Kunst, auch damals gings nicht darum, ob Charlotte Roche singen kann, sondern schlicht und ergreifend um die Tatsache, dass es viel angenehmer ist, mit Charlotte im Studio zu sein, als mit Sarah Connor. Und ob die singen kann, sei auch mal dahingestellt.

Gehst du bei der Mannschaft auch in der Kabine ein und aus?

Nee, auf keinen Fall. Dariusz Michalczewski durfte vor zehn Jahren mal auf der Trainerbank sitzen, aber das ist nicht mein Ding. Ich gebe zu, dass ich damals, als ich 1997 hergezogen bin, zunächst aus Eventgründen im Stadion war, da wurde gefeiert und getrunken. Aber das änderte sich schnell und seither leide ich mit und sehe viel schlechten Fußball, wobei sich das diese Saison ja augenscheinlich zu ändern scheint. Ich war dann auch einer der ersten, die sich eine Lebensdauerkarte gekauft haben.

Kam dir eigentlich nie Bandenwerbung à la Andrew Eldritch in den Sinn?

Doch, das habe ich mir in der Tat schon überlegt.

Sowas wird doch sicher an dich heran getragen.

Vom Verein nicht, nein. Ich genieße im Stadion ja so eine halbe Anonymität zwischen 20.000 Menschen. Die meisten Leute da haben sich an meinen Anblick gewöhnt und lassen mich in Ruhe. Aber es gibt eben auch die, die ganz aufgeregt - ach Gott Bela und so - sofort ihr Handy zücken. Aber ich gebe grundsätzlich keine Autogramme im Stadion und mache auch keine Fotos, denn das ist mein privater Freiraum. Da will ich Fußball gucken, fachsimpeln und Bier trinken.

Bandenwerbung wäre dieser Einstellung also eher hinderlich?

Ja, das lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf den Rockstar Bela B., der da im Stadion hockt. Ich war aber ziemlich stolz, als bei dem Spiel gegen Hansa Rostock, als es diese Ausschreitungen gab und zunächst eine üble Stille über dem Stadion lag, als da als erster Song "Schrei Nach Liebe" gespielt wurde, ein Song, der zum Teil auch von mir ist. Da hat das gesamte Stadion dann in den Rostock-Block gezeigt und "Arschloch" gebrüllt.

Das traf zunächst allerdings die Falschen, weil da natürlich viele normale Fans und Vereinangehörige standen. Man kann nicht pauschal sagen, alle Rostock-Fans sind Nazis. Die Polizei hat damals aber den Fehler gemacht, einige gewaltbereite Hools ins Stadion zu treiben. Deshalb traf es hier und da doch den Richtigen.

Und in dem Moment war es halt auch ein Ventil für den Druck, den an dem Tag alle spürten, da man dachte, es würde sehr schlimm werden. Die Ausschreitungen hielten sich im Vergleich zu meinen Erwartungen dann sogar noch in Grenzen, obwohl die Medien die Gewalt als sehr ausufernd dargestellt haben.

"Ich will das Andenken an unser Schaffen der letzten 25 Jahre nicht beschmutzen"

Wie schmal ist bei dir der Grat zwischen der Lust, deine Fans auch im gesetzteren Alter noch mit Rockmusik zu unterhalten und der Furcht ...

... peinlich zu werden.

Ja, oder den Absprung zu verpassen.

Das beschäftigt mich natürlich schon länger. Jan und ich sagen immer, wir hoffen, dass unsere Freunde uns rechtzeitig warnen. Wir sind aber noch nicht dement oder geisteskrank und speziell ich nicht mehr auf selbstzerstörerischen Drogentrips unterwegs. Uns wundert der Zulauf der 12-18-Jährigen auch, da man in jungen Jahren gewissen Älteren gegenüber doch eher misstrauisch gegenüber steht. Das Interesse liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns nie verkauft haben.

Kannst du dir vorstellen, dass diese Nähe zu jugendlichen Sorgen bei euch irgendwann verschwindet, vielleicht weil ihr plötzlich nicht mehr so oft ausgeht?

Der Reiz an durchgemachten Nächten nimmt mit zunehmendem Alter schon ab. Andererseits drehen sich nicht alle Texte in der Rockmusik ums Nachtleben. Ich habe ja noch ein paar Jahre bis zur 50, wo ich dann sagen kann: Gut, einen Song wie "Teenagerliebe" muss ich nicht mehr singen. Denn man kann in Würde altern.

Mick Jagger hätte seine Spandexhosen schon lange ausziehen sollen. Aber das ist jedem selbst überlassen. Ich würde ungern das Andenken an unser Schaffen der letzten 25 Jahre durch eine Unverbesserlichkeit oder Sturheit beschmutzen. Und auch wenn ihr das anders seht: Das letzte Ärzte-Album halte ich für das Beste, was wir seit Ewigkeiten gemacht haben.

Und doch schafft ihr es, mit "Junge" als Ü-40er die Sorgen eines 12-Jährigen anzusprechen. Dieser Link zur Jugendkultur, wo kommt der her?

Das ist schon richtig, aber dieses Punkrock-Gebilde, das Farin in dem Text beschreibt, gibt es so ja auch nicht mehr. Das wurde ja von Hip Hop abgelöst. Und ich habe auch adoleszente Neffen und Nichten, die sich im pubertierenden Alter befinden. Manchmal muss man reifen, um Dinge zu verstehen, die man irgendwann mal erlebt hat. Was mich betrifft: Ich könnte mir schon vorstellen, irgendwann im höheren Alter wie Tom Jones auf die Bühne zu gehen und mit diesem Elder Statesmen-Ding zu spielen, auch vor jüngerem Publikum.

Nick Cave hat kürzlich in einem Interview gesagt, er gehe zum Songschreiben morgens früh aus dem Haus wie jeder andere Arbeitnehmer, sitze in seinem Büro und komme gegen Abend wieder nach Hause.

Ich habe das Interview auch gelesen und kannte die Herangehensweise schon von der Schriftstellerei. Der Ansatz birgt einen gewissen Reiz, gerade wenn du älter wirst und in der Lage bist, dich besser zu disziplinieren. Man kann sich ja nicht ewig wie ein 16-Jähriger benehmen, was auch ich auf dem harten Weg irgendwann erfahren musste. Ich bin aber schon eher nachtaktiv, arbeite da am besten.

In Anlehnung an Farin Urlaubs Technik trage ich immer ein Diktiergerät mit mir herum und sammle so meine Ideen. Früher haben Künstler ja auf dem Lebensentwurf bestanden, frei zu leben und abzuwarten, bis die Kunst irgendwann fließt. Und naja, irgendwie singen wir Künstler doch auch gegen diese 9 to 5-Mentalität mit Beinehochlegen am Wochenende an.

Man darf aber auch nicht vergessen, wo Nick Cave herkommt, die Drogengeschichten und all das. Ich finde ja seine Grinderman-Platte höchst pubertär, also sehr geil, und wahrscheinlich brauchte er danach sowas. (lacht). "Ninjababypowpow" von meiner neuen Platte hat in Teilen auch was von Birthday Party, zumindest hatten die auch immer so nen hypnotischen Bass damals.

Standest du damals in West-Berlin schon auf Cave?

Klar, die erste Birthday Party-Platte habe ich als Teenager rauf und runter gehört, war auch auf ihrem ersten Konzert. Im Risiko, wo ich oft rumgehangen bin, habe ich aus einer Ecke heraus immer beobachtet, wie er sich bewegt und so. (lacht)

Farin meinte kürzlich, er höre heute in den alten King Kong-Platten vor allem die Frustration heraus, es nicht geschafft zu haben. Wie ergeht es dir mit Depp Jones-Platten?

Ich höre da nur Flausen. Die erste Platte sollte eine Rock'n'Roll-Platte werden und mir gefallen einige Songs auch immer noch, aber vieles war einfach zu verkopft. Ich hätte bei dem spielerischen Umgang des S.U.M.P.-Projekts bleiben sollen, das hätte mir gut getan. Aber nach der Ärzte-Karriere, das ging Jan sicher auch so, wollten wir unbedingt ernst genommen werden.

Wir wollten von heute auf morgen anders sein und das war einfach total scheiße. Abgesehen davon, dass es der Höhepunkt unserer Karriere war, kurz danach die Mauer fiel und unzählige Ostdeutsche uns plötzlich live sehen wollten. Und wir kamen dann mit so komischen Kumpelbands, hundert Prozent an den Metal/Crossover-Zeitgeist angelehnt. Schon meine Stimme konnte das gar nicht leisten.

In der DDR habt ihr nie gespielt, oder?

Nein, es gab eine Amiga-Single und es sollte ein Album und eine Tour folgen. Dann trafen wir uns drüben mit einem Moderator, der mit unserem Bassisten befreundet war und gingen zusammen zu einem Konzert von Die Anderen. Ein paar Leute aus der Band spielen heute bei Rammstein. Anschließend ging man noch zusammen in eine Wohnung und diskutierte, sehr offen.

Leider war der Radiomoderator IM, wie wir Jahre später erfuhren. Daher ist die geplante Tour abgesagt worden. Offiziell hieß es natürlich, wir hätten uns das anders überlegt. Im Anschluss daran konnten wir auch nicht mehr unbeobachtet einreisen und wie die Toten Hosen zum Beispiel irgendwo in einer Küche spielen. Das bereue ich sehr, denn wir wohnten am dichtesten von allen dran und hätten das alles machen können.

Die Soloaktivitäten von Farin und dir überschneiden sich ja nie. Zufall ist das kaum, oder? Nach den Ärzten hattet ihr ja 2008 sicher beide gleich Solopläne in der Schublade.

Jan und ich achten schon darauf, dass wir uns nicht im Weg stehen mit den Solosachen und der Band. Ich wusste natürlich, dass ich eine neue Platte machen würde. Aber dann zog sich die Tournee mit den Ärzten immer mehr in die Länge. Klar, wir sprechen uns da schon ein bisschen ab, etwa dass ich mit dem neuen Album ein bisschen warte, bis die Leute Farin Urlaubs Tour verkraftet haben. Der Fokus liegt ja schon auf uns beiden, wir sprechen hier ja auch öfter über ihn. Man kann so eine Band auch nicht wegdiskutieren, das wäre ja Schwachsinn.

Ich fand es zum Beispiel sehr spannend, als man dank Dave Gahans Platte und seinen Interviews nach jahrelangen Nullinformationen plötzlich viel über die Strukturen hinter Depeche Mode erfahren hat. Da wurde sehr viel über die Beziehung zwischen ihm und Martin Gore bekannt. Und seitdem ist da wieder richtig Leben drin, in der Band und im Fokus auf die Band, ohne dass die jetzt schmutzige Wäsche gewaschen hätten.

Ah, meine Jugendband. Die hätte ich dir musikalisch jetzt ja nicht zugeordnet.

Also die aktuellen Sachen reizen mich jetzt nicht unbedingt. Aber in den 80ern haben die schon großartige Songs geschrieben. Die waren auch immer im Fokus der Ärzte, weil Farin Urlaub die ziemlich mochte. Und später hat das ja durch die Johnny Cash-Version nochmal eine ganz neue Bedeutung bekommen. Spätestens da war ja völlig klar: Du kannst einem guten Song höchstens noch mehr Charisma hinzufügen. Und das hat Cash dann auch gemacht.

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Die Ärzte

Die lange und ereignisreiche Geschichte der Ärzte beginnt 1980 in Berlin: der Dekorateurslehrling Dirk "Bela B." Felsenheimer trifft auf Gymnasiast Jan …

LAUT.DE-PORTRÄT Bela B.

Bela B. ist der beste Schlagzeuger der ... nein, falsch: Bela B. ist der Schlagzeuger der Besten Band der Welt. So herum! Unter diesem Titel kennt ihn …

Noch keine Kommentare