laut.de-Kritik
Lagerfeuer in einer besseren Welt.
Review von Yannik GölzBig Thief machen Folk als Worldbuilding. Seit die Gruppe um Adrianne Lenker 2019 ihr doppeltes 4AD-Debüt mit "U.F.O.F." und "Two Hands" vorlegte, haben sie sich als die vielleicht faszinierendsten klassischen Songwriter der Gegenwart hervorgetan. Die Stimmung auf diesen Alben war cool, aber nicht kalt, kreativ, ohne Gimmicks, psychedelisch, ohne sich von den Grundlagen zu entfernen.
Einen Lockdown und mehrere Soloalben später kehren sie mit "Dragon Warm New Mountain I Believe In You" zurück. Der Titel lässt es erahnen – es ist ein exzessives Album. Mit Einflüssen aus Country, Neopsychedelia und Trip Hop lassen sie eine Lagerfeuer-Session auflodern, in der sie mit 20 Songs ihr Vertrauen in die Welt und die Musik nach außen tragen.
"Dragon" ist ein exzessiver Euphorie-Akt. Lenker hat selbst im Interview bekundet, dass sie sich freier ausdrücken wollte. Weg mit der Selbstzensur der Coolness-Polizei, die Songs sind kindlich, albern, manchmal cheesy, manchmal komplett wirr. Und sie sind durch die Bank zuckersüß. Jeder Roadmovie-Regisseur der nächsten dreißig Jahre wird auf diesem Album Material für fünf Soundtracks zusammenklauben können. Die naive Euphorie des Openers "Change" äußert sich in sanft aufgebauten Alt-Rock-Kontrastpaaren. "Change like the wind / Like the water, like skin / Change like the sky / Like the leaves, like a butterfly" schließt sie den Song ab, bevor "Time Escaping" das komplette Spektrum ihres spielerischen Könnens abdeckt.
Eine impressionistische Assoziationskette spannt sich über die Nummer, die ganz im Zeichen der vielschichtigen, unorthodoxen Percussion steht. Sie haben sich Visitenkarten unter die Gitarrensaiten geklemmt, um ihren Sound weiter zu hemmen. Wie an vielen Stellen dieses Projekts, an denen sie mit eigentlich herkömmlichen Mitteln außerweltlichen Sound schaffen. Zu dieser innovativen Kraft zählt auch die Dylan-eske Country-Rock-Nummer "Spud Infinity", auf der Lenker in aller Albernheit einen gewissen Ernst findet. "Everybody steps on ants / everybody eats the plants / everybody knows to dance" singt sie mit ansteckender Energie, um dann im Refrain die Fangfrage "what's it gonna take?" zu stellen.
Überhaupt: Die Lyrics auf diesem Album sind wunderschön. Es lohnt sich hier wirklich, aufmerksam und am besten mit Lyrics-Website offen zuzuhören, denn Lenker droppt Juwel nach Juwel. "'Maybe I love you' is a river so high, 'maybe I love you' is a river so low" singt sie auf "Certainty", auf "No Reason" heißt es "There is no reason / no reason at all / come together for a moment, look around and dissolve". Dieses Album spiegelt das Absurde der Welt mit Galgenhumor, aber wird dabei nie zynisch. Man muss sich nur das Albumcover ansehen: "Dragon" ist "Wo die wilden Kerle wohnen", aber du darfst mit am Lagerfeuer sitzen.
"Hand upon my skin / warm me up and calm me down" singt Lenker zum Beispiel auf dem frühmorgentlichen Roadtrip-Song "Wake Me Up To Drive" und strahlt eine Wärme und Akzeptanz aus, die binnen Sekunden Fernweh weckt. Trotzdem lässt sich die Lebensfreude und die vorsichtig extrovertierte Sehnsucht nach anderen Menschen nicht besser zusammenfassen als mit dem konklusiven Statement, das den ganzen Refrain des Titletracks bildet: "I believe in you, even when you need to recoil".
Selbstverständlich, 80 Minuten Folk bleibt auch bei diesem Level an Qualität ein Job für Leidenschaftstäter, und es wird Momente geben, in denen man ein bisschen durchschnaufen möchte. Aber Big Thief geben alles, um Kleinode der Abwechslung einzustreuen. "Blurred View" macht einen zweiminütigen Bond-Soundtrack mit Trip Hop-Groove und hypnotischer Intensität und lässt ihn trotzdem natürlich in die Tracklist fließen. Gegen Ende fädelt das Album mit dem besten Song "Simulation Swarm" in Richtung des Sonnenuntergangs. Die Gitarrenmelodie fließt melancholisch und sanft dahin.
"I wanna drop my arms and take your arms and walk you to the shore" singt sie dann, nachdem sie sich durch die Simulations-Sümpfe geschlagen und vor einem Krieg gedrückt hat. "Dragon Warm New Mountain I Believe In You" ist eine musikalische Umarmung in Form eines Festivals. Der Exzess stört nicht, er fließt nur in die Erfahrung. Dieses Album emuliert Heimat, Verbundenheit und Angekommensein. Und das Zulassen alles Albernen, Lustigen und Kindlichen machen es erst möglich. Big Thief sind Architekten von anderen Welten. Und man sollte ihnen dankbar sein, dass sie nicht an Zeit gegeizt haben, die wir in dieser besseren verbringen dürfen.
1 Kommentar
Dann breche ich jetzt mal den Bann des bemerkenswerten Desinteresses der hiesigen Userschaft am redaktionellen Lieblingsalbum des vergangenen Jahres, bzw. scheinbar der Band überhaupt, was angesichts des anhaltenden kritischen Zuspruchs ja fast schon ein bisschen skurril wirkt:
Schönes Album einmal mehr, das Lob für Lenker am Stift ist bestimmt berechtigt, ihren Gesang sollte man mMn unbedingt dazunehmen. Die Umschreibung der Scheibe als "exzessive[n] Euphorie-Akt" kann ich dagegen höchstens gemessen am (mir zugegeben weitgehend fremden) Genre und den Inhalten nachvollziehen. Formell finde ich es insgesamt trotz einzelner Abweichler (das in der Rezi genannte "Blurred View" oder das gtroßartige , fast ein bisschen gazige "Little Things") schon recht klassisch gehalten.
Und das ist auch so ein bisschen mein Problem damit: Sie erfinden sich und ihre Musik hierauf nicht neu und reihen Hit-mäßiges für meine Begriffe jetzt auch nicht ein zweites "Mary" an ein drittes und viertes, sprich: Es wird stellenweise ein bisschen langweilig.
"Selbstverständlich, 80 Minuten Folk bleibt auch bei diesem Level an Qualität ein Job für Leidenschaftstäter, und es wird Momente geben, in denen man ein bisschen durchschnaufen möchte."
Genau, nur mit "gähnen" statt "durchschnaufen". Schöne Musik, tolle Momente, aber als Album wird es hier vermutlich nicht mehr viele Durchläufe sammeln.