laut.de-Kritik

Meisterhaftes Live-Album, das den Rap mit ermöglichte.

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Das Doppelalbum "Live At Carnegie Hall" von Bill Withers erzielt auch noch Jahrzehnte später auf mehreren Ebenen seine Wirkung: Ob als Sammlung von "Übersongs", als Zeitdokument, als fesselnd emotionale Platte, als Jazz-Werk des Soul, als akustisch ungewohnt brillanter Mitschnitt, als Musterbeispiel ansteckend guten und gut gelaunten Band-Zusammenspiels - und nicht zuletzt, weil dieses Album dazu beitrug, Rap zu ermöglichen. "World Keeps Going Around", "Better Off Dead" und das Intro zu "I Can't Write Left-Handed" wickelt Bill als Spoken Word Poetry-Jazz ab. Und in den gesungenen Titeln nimmt er zu manchen Themen kein Blatt vor den Mund.

Die Aufnahmen entstehen während seines Konzerts am 6. Oktober 1972 in New York. In den 77 Minuten Spielzeit greift Bill souverän den stoischen, trockenen Funk der frühen 70er auf - die Musik James Browns etwa. Er gibt einigen Songs sehr viel Zeit, so dem Opener "Use Me", in dem die sägende Bassgitarre Melvin Dunlaps eine dunkle Stimmung und elektrisierte Spannung aufbaut.

Zugleich integriert der Soul-Sänger den in der US-Gesellschaft damals wichtiger werdenden Feminismus und geht zur hörbaren Begeisterung des Publikums mit einer Frau an den Percussions auf die Bühne: Bobbye Hall Porter. Sie erntet brandenden Applaus. Für sie wird die Platte zum Karrieresprungbrett. Ihr hypnotisierender Stil an den Tambourines prägt die Scheibe massiv. Sie ist zu dieser Zeit im Wechsel mit Bill Withers und mit Carole King auf Tour und schlägt so symbolisch die Brücke zwischen dem 'schwarzen' und 'weißen' Soul von Bill respektive Carole – damals ist das Publikum meist rassistisch gespalten. Doch Bill erweist sich nicht nur als Magnet fürs dunkelhäutige Publikum. Er stürmt die US-Crossover-Charts und spricht viele an.

Nicht zuletzt, weil er mit Texten wie "I Can't Write Left-Handed" und "Use Me" gewichtige Themen der Zeit in der geeigneten Wortwahl vertont. "I Can't Write Left-Handed" veröffentlicht er - wie noch drei weitere Songs - nur in der Live-Version und erzählt auf zutiefst berührende Art von einem Vietnamkriegs-Veteranen, der seiner Mutter mitteilt, er habe seine rechte Hand im Krieg verloren und könne ihr mit der linken Hand nicht so wirklich einen Brief schreiben. "Use Me" thematisiert die sexuelle Befreiung in den prüden Staaten: "Benutze mich, bis ich aufgebraucht bin", so lautet die Message. In der Carnegie Hall-Version vernimmt man ab der dritten Minute lautes, rhythmisches Klatschen des Publikums. "Use Me", stellenweise im Gesang nur perkussiv begleitet, fängt als Opener das Publikum gleich ein.

"Ain't No Sunshine" erklingt - anders als in vielen Versionen - ohne jede Süßlichkeit. So zeichnet sich diese Einspielung des Trennungssongs als eine der besten unter den Hunderten aus. Wahrhaft groovend das Intro: Bassist Melvin imitiert das Weggeh-Geräusch der Dame, die hier von dannen geht ("when she's gone"). Die zweite Strophe nimmt die Streicher dazu, sportlich-funky gespielt und frei von orchestralem Pathos. Die zweite Refrain-Passage gerät emotional, doch nicht voller Trauerflor, wie in den meisten Fassungen, sondern aufgewühlt.

Für "Grandma's Hands" bringt Withers die Leute step by step in Stimmung: Er erzählt, mit fünf, sechs Jahren habe er auf seine Großmutter aufpassen müssen (nicht umgekehrt). Der Job sei "hip" gewesen. Dazu habe gehört, dass sie nicht stolpern oder stürzen durfte, im Fall des Falles hätte sie sich auf ihn fallen lassen müssen. Außer Haus sei sie aber nur zur Kirche gegangen. Unter schallendem Gelächter des Publikums startet Withers den Song mit Acapella-Einzelteilen und reißt das Publikum immer tiefer in seine Geschichte mit. Er führt anhand der Gesangsteile vor, wie die Kirchenbesuche verlaufen seien, imitiert seine Oma und zeigt, indem er Percussionspielerin Bobbye mit einbezieht, was es mit der Zeile "Grandma (...) played the tambourine so well" auf sich habe. Seine Oma sei ja nicht so toll an der großen Marschtrommel, dem Tamburin, gewesen wie Bobbye; für die Kirche habe es aber gereicht. Und dann fließt der Song in einer so wunderschönen Eleganz dahin, dass man sich kneifen muss: Was verstehen wir im 21. Jahrhundert unter Soulmusik? Wissen wir um die wirklichen Soul-Momente der 1970er Jahre?

Dieses Live-Album führt die Bandbreite des Souls von dem afrikanischen Trance-Rhythmus in "Use Me" bis zur ProgRock- und Blues-getränkten Wahwah-Gitarre in "For My Friend" durch eine breite Palette. Von zart ("I Can't Write Left-Handed") bis hart/trocken ("World Keeps Going Around") und von aufgemotzt ("Ain't No Sunshine") bis unplugged ("Let Me In Your Life"), hier findet Rundum-Service statt.

Für Withers, ehemaliger Berufssoldat im Nahost-Einsatz, geht es in "I Can't Write Left-Handed" nur vordergründig um die physische Kriegsverwundung. Tatsächlich wiegt das Trauma viel schwerer. "He done shot me in my shoulder", "Er hat mir in die Schulter geschossen getan", heißt es in dem Brief des Kriegsveteranen. So wie Withers das vorträgt, glaubt man ihm jedes Wort sofort. Gerade in dieser Zeit, einen Monat vor der Wiederwahl Nixons, reagiert das Publikum mit spürbar elektrisierter Aufmerksamkeit auf das siebenminütige Epos. Es kommt etwas überraschend, zumal im Ablauf sonst nicht so traurige Songs überwiegen und das Lied von keiner Studioplatte bereits bekannt war. Die Fünf-Akkorde-Struktur stoisch wie ein Mantra unter sich laufend, enthüllt der Text die Kriegsmaschinerie. "Boot camp we had classes. You know we talked about fighting-fighting everyday. And looking through rosy colored glasses, I must admit it seemed exciting anyway."

Withers führt hier in beißenden Worten vor, wie junge Soldaten in Motivationsschulungen den Kampfeswillen eingehämmert bekamen. In Naivität und rosigen Vorstellungen gefangen, glaubte dieser Veteran, dessen Worte Withers rezitiert, ein bisschen daran, dass Krieg doch ganz aufregend sein könnte. Seiner Mutter trägt er auf, dem Pfarrer einen Gruß zu sagen. Er solle für ihn beim Herrgott ein gutes Wort einlegen. Denn er wolle nicht mehr leben.

"Lean On Me" vom zweiten Album "Still Bill" beruht auf mehreren einfachen Tricks. Aus dem Wechsel von Dur- und Mollakkorden im Harmonieverlauf entsteht eine Mellow-Stimmung. Die Refrains arrangiert er entgegen der Hörgewohnheiten mit wummerndem Bass-Stakkato. Die einfache Botschaft des Songs: "Lean on me when you're not strong", ein Song über Zusammenhalt, Verlässlichkeit, starke Schultern. Bill Withers gibt an, diesen Song nach einem Umzug geschrieben zu haben - es verschlug ihn nach L.A. Er hatte Heimweh und fand die Leute in der Stadt kalt und distanziert.

Im Medley "Harlem / Cold Baloney", 13 Minuten, entsteht zwischen Band und Publikum eine famose Einheit, und das, obwohl der Sänger "Cold Baloney" nicht als bekannt voraussetzen kann. Dieser Song erschien sonst zuvor nur in einer ganz anderen Version namens "Cold Bologna" als Album Cut bei The Isley Brothers ("Givin' It Back", 1971). Trotzdem gehen die Leute ab wie wild, singen spontan mit. Beim Übergang vom "Harlem"-Teil in den "Cold Baloney"-Abschnitt lässt Withers "Harlem" zu "Holler" verschwimmen und sampelt im Gesang Marvin Gayes 1971 erschienenes "What's Goin' On"-Album mit der Songzeile "Makes Me Wanna Holler" ("Inner City Blues") - neben dem Vietnam-Thema ein zweiter politischer Moment auf dem Album, dieses Mal bezogen auf die Innenpolitik und die ausstehende Verwirklichung der Bürgerrechte im Alltag. Weil das damals eine aktuelle Charts-Hymne war und Gayes Song einen Nerv traf, catcht Withers sein Publikum in diesem Moment erneut - und sie folgen ihm quiekend (Minute 7:15). Es klingt wie eine Riesen-Party (ab Minute 8:30). Bei diesem Konzert wäre man gerne dabei gewesen.

Bill Withers hat eine der relevantesten Konzertplatten und Soulscheiben überhaupt geschaffen – und ein Referenzwerk dieser Tonträgersorte, auch dank der sehr guten Akustik und Soundqualität. Dass er späteren Rappern so viel Stoff bietet, macht die Musik noch zeitloser: Kendrick Lamar, Dr. Dre, 2Pac, Drake, French Montana, zudem James Blake, Aaliyah, J.Lo, Kid Rock und zahllose andere verwendeten Partikel aus diesem Album. Kanye West, Jill Scott und J. Cole bedienten sich mehrmals an Withers Gesamtwerk.

Jemand, der nicht bewiesen hätte, dass sich die Macht seiner Worte so 1:1 an seiner Wirkung vor Publikum messen lässt, hätte wohl nie die Credits bekommen, so relevant für die Black Music History zu sein wie Withers. Denn Soul, R'n'B, Gospel & Blues sind Oral History. Bill Withers lebte und verkörperte diesen Grundsatz auf "Live At Carnegie Hall", und darin liegt das Vermächtnis dieser Platte.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Use Me
  2. 2. Friend Of Mine
  3. 3. Ain't No Sunshine
  4. 4. Grandma's Hands
  5. 5. World Keeps Going Around
  6. 6. Let Me In Your Life
  7. 7. Better Off Dead
  8. 8. For My Friend
  9. 9. I Can't Write Left-Handed
  10. 10. Lean On Me
  11. 11. Lonely Town, Lonely Street
  12. 12. Hope She'll Be Happier
  13. 13. Let Us Love
  14. 14. Harlem / Cold Baloney

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