laut.de-Kritik
Neue Kleider für den Waldhütten-Indiefolk.
Review von Matthias MantheEin Cover-Vergleich zwischen Erst- und Zweitwerk zeigt: Justin Vernons Waldhütten-Indiefolk trägt neue Kleider. Impressionistische Naturlandschaft statt monochromatischer Eiskristalle, mehr das große Waldganze denn Detail-Verästelung.
"Ich finde keine Inspiration mehr, wenn ich mich einfach an die Gitarre setze", sagt der Bon Iver-Protagonist. "Ich wollte diesmal einen Sound von Grund auf erbauen und dann daraus den Song konstruieren." Drum streift der Midwestler den einsamen "For Emma"-Eremiten des Debüts ab und präsentiert ein weitläufiges Bandsound-Album.
Üppig eingesetzte Streicher und Bläser ummanteln das einst karge Akustikgitarrenskelett neuerdings mit dickem Fleisch. Zudem weitet Vernons gewachsene Charakterstimme, die in "Minnesota, WI" und "Hinnom, TX" das Falsett verlässt und fast nach den 4AD-Kollegen TV On The Radio klingt, den Klangraum. Die Grundstimmung bleibt schwermütig, gewinnt durch solcherlei Steroide aber viele harmonische Texturen hinzu. Überhaupt wird allen Instrumenten - von Sean Careys Drums zu Matthew McCaughans Bass - mehr Aufmerksamkeit zuteil.
Die Ursache der Sound-Expansion liegt unter anderem in der Erweiterung des technisch Möglichen: Die Albumproduktion ging analog zum Aufbau eines eigenen Tonstudios in der Heimatstadt Eau Claire vonstatten. Resultat sind beeindruckende Produzentenskills und herrlicher Stereosound. Im Sound-Gewitter weicht jedoch nicht nur die Unmittelbarkeit des Vorgängers der Arrangeurskunst - auch die lyrische Gegenständlichkeit löst sich darin auf.
Anhand überaus formschöner Poesie verschlüsselt Vernon seine Songtexte jetzt bis zur Unkenntlichkeit. Zugang zur Sinnebene dahinter bleibt ihm exklusiv, während wir mit Fragen sitzen gelassen werden, auf die die wohlartikulierten, raumfüllend-hymnischen Tonsammlungen keine Antwort wissen.
Nicht leichter gestaltet sich die Rezeption durch den weitgehenden Verzicht auf Pophooks. Von übersichtlichen Strophe-Refrain-Mustern, die allerdings auch auf dem Erstling mitunter nur skizziert waren, verschiebt der Vierer den Fokus auf Klangformulierung. Das Bon Iver-Gerüst gerät unter unzähligen Soundkleidern mächtig ins Schwitzen. Ob hinter all der Ambition allerdings tatsächlich überdauernde Songsubstanz und inhaltliche Relevanz stecken, mag dieses merkwürdige Album auch nach Stunden einfach nicht verraten.
22 Kommentare
wow. in den letzten ein, zwei jahren verlässt man laut.de sehr oft sprachlos. aber nun gut, geschmäcker sind nun mal unterschiedlich.
bis auf "beth/rest" finde ich das album grandios. vor allem der flow von song zu song ist grandios, wie auch die eingesetzten synth oder mit was auch immer man die klangfarben erzeugte.
es unterscheidet sich schon stark zum erstling und erinnert mich mehr an eine drum session, die es aber in sich hat. den hype finde ich hier gerechtfertigt und ich habe nicht damit gerechnet, dass das bekanntlich schwierige zweite album gelingen würde.
Hätte stark mit 5/5 gerechnet. Schon allein wegen 9.5 / 10 von pitchfork
Das Album ist zu groß für Folk. Offen gestanden, wenn man die sich die Rezension ansieht auch zu groß für den Autor.
echt ein tolles Album, auch wenn man nicht auf so ruhige Musik steht unbedingt empfehlenswert!
Nachdem ich For Emma als Dauersoundtrack über 3 Jahre laufen hatte, war ich nach dem ersten, und dem zweiten und auch dem dritten Hören von "Bon Iver" tatsächlich enttäuscht, wollte die Platte in die Abteilung "weichgespülte Ambi-Sounds" stecken. Aber es sickerte und sickerte und nun nach weiteren 3 Jahren erschließen sich jedem Lied in unterschiedlichem Kontakt und persönlicher Weiterentwicklung immer noch neue Aspekte - so etwas hatte ich bislang nur bei Radiohead oder Miles Davis. Ein grandioser musikalischer Stream of Consciousness eines genialen Musikers, Liedkunst, die mit dem Hörer mitwächst! Großartig.