laut.de-Kritik
Carly sieht die Zukunft pink.
Review von Mirco LeierIn einer Zeit, in der jede*r aufstrebende Newcomer*in sich selbst zur nächsten großen Pop-Ikone stilisiert, bleibt Carly Rae Jepsen eine Frau der etwas kleineren Gesten und treibt dadurch seit Jahren ein wenig unter dem Radar. Ihre Musik frönt dem Kitsch und der emotionalen Tradition des Genres, verzichtet aber bisweilen auf den großen Bombast oder der am Whiteboard konstruierten Marktfähigkeit. Das macht sie zwar als Mensch nahbar, hat aber auch zur Folge, dass einige der besten Popsongs der letzten Dekade nie das große Publikum erreichten, dass sie eigentlich verdienten.
Jepsens Arbeitsethos tut das jedoch keinen Abbruch. Für die Kanadierin hat es mittlerweile fast schon Tradition, auf jedes ihrer Studioalben das Release der jeweiligen B-Seiten folgen zu lassen. Auch ihre letztjährige, etwas durchwachsene LP "The Loneliest Time" bekommt nun in Form von "The Loveliest Time" einen musikalischen Zwilling. Wie es die Dichotomie der Titel bereits vermuten lässt, agiert die Platte in diesem Fall nicht zwingend als Fortsetzung des Mutter-Albums, sondern dient vielmehr als Gegenentwurf. Wo "The Loneliest Time" seine Inspiration aus Verlust, Einsamkeit und der Isolation der Pandemie zog, holt Jepsen hier wieder die über die Jahre eingestaubte rosarote Brille heraus und poliert sie blitzeblank.
Jepsen sagt jedoch, dass die Songs in diesem Falle nicht aus dem Gefühl des Verliebtseins entstanden seien, sondern eher aus dem Verlangen nach eben diesem Gefühl. Das schlägt sich auch im Songwriting nieder, denn musikalisch bedeutet "The Loveliest Time" nicht nur eine Rückkehr zur Form, es liefert auch mitunter die spannendsten Blicke über den musikalischen Tellerrand, die die manchmal etwas formelhaft agierende Jepsen in ihrer Karriere bislang wagte. Insofern mag man sich vielleicht nicht auf den ersten Blick verlieben, aber wenn es einmal geschehen ist, gibt es kein zurück mehr.
Schon der Opener "Anything To Be With You" überrumpelt einen ein wenig mit seiner Reggae-Drumline und den funkigen Gitarren-Licks, die immer wieder schlagartig in den Chorus hineinplatzen. Das klingt wie ein musikalischer Trip durch den Süßwarenladen, und Jepsen selbst treibt diesen Zuckerschock mit ihren "Never over!"-jubelnden Zurufen auf die absolute Spitze. Nur wenige Popstars zelebrieren den Eskapismus dieses Genres mit so viel Herzblut wie Jepsen.
Für "Shy Boy" und das großartige "Psychedelic Switch" wirft sie sich ins Glitzerkleid, schmeißt die Moroder-Synths an und holt die Discokugel raus, während sie mit dem verträumten Disney-R'n'B von "After Last Night" die Luft um einen herum förmlich funkeln lässt. Nahezu alle Sounds, nach denen sie hier ihre Finger ausstreckt, bereichern ihren musikalischen Kosmos ungemein. Die Synth-Kanonen in "Stadium Love" fahren einem gepaart mit Jepsens energetischen Vibrato durch Mark und Tanzbein, und auf "Put It To Rest" schaukeln sich ein trauerndes Piano und hypnotische Trommeln gegenseitig in den siebten Himmel.
Das größte Highlight der LP findet sich jedoch gerade in dem Moment, in dem die Kanadiern einen Gang runterschaltet und sich das Klangbild ein wenig lichtet. Wo ein Großteil von "The Loneliest Time" von großen Hooks und unwiderstehlichen Melodien getragen wird, glänzte auf dem emotional nackten "Kollage" auch die sonst eher zweitrangige Lyrik. Jepsen singt darüber, dass auch die Menschen um sie herum darunter leiden würden, wenn sie sich selbst verletze, und bettet es mit ihrer sanften Stimme in psychedelischen Synths ein. Das klingt nach aus dem Fenster starren, nach dem Geruch seiner Lieblingskuscheltiere, nach den ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen einer schlaflosen Nacht. Müde und wunderschön zugleich.
Selbst die Songs, die ihrem ursprünglichen Stil treu bleiben, und in denen die musikalische Blaupause ihrer älteren Alben deutlich nachhallt, wie das explosive "Kamikaze" oder das Groove-Monster "So Right", klingen nicht wie lose Fingerübungen, die Jepsen vom Studioboden aufsammelte, sondern wie verlorene Schätze. Schade nur, dass ausgerechnet das finale "Weekend Love" der LP abschließend ihren einzigen Dämpfer verpasst, und sich mit dem hochgepitchten Vocal-Chopping im Chorus ein wenig zu sehr aus dem Fenster lehnt.
Das bricht der Pop-Prinzessin auf diesem Album jedoch keinen Zacken aus der Krone. "The Loveliest Time" markiert nicht das erste Mal, dass Carly Rae Jepsen mit ihren B-Seiten das zuvor erschienene Mutter-Album in den Schatten stellt. So grandios wie hier gelang es ihr jedoch noch nie. "The Loveliest Time" denkt den Sound des Vorgängers nicht nur weiter, es emanzipiert sich vollends von ihm und landet in der Folge einen der spaßigsten und spannendsten musikalischen Homeruns des Jahres. Alle sehen schwarz, Carly sieht die Zukunft pink.
7 Kommentare mit 17 Antworten
Freut mich sehr, die Rezi hier zu sehen. Die Scheibe macht mir schon seit ein paar Wochen Freude! ♥
Für mich die echteste, ansteckendste Popsängerin und Songwriterin zur Zeit.
5/5, wie seit 10 Jahren immer bei Carly Rae Jepsen.
Ungehört 1/5, wie seit 10 Jahren immer bei Call Me Maybe Jepsen.
Peinliche Meinung für jemanden mit Björk Profilbild
Warum?
Wenn ich für jedes Mal, wo in der Rezi "Kanadiern" statt "Kanadierin" steht, einen Euro bekäme, dann hätte ich jetzt 2 Euro. Was nicht viel ist, aber es ist merkwürdig, dass es zwei Mal passiert ist.
Nicht viel? Davon kann man einem Säugling bei Mäcces eine asoziale Pummeligkeit finanzieren!
Das find ich jetzt aber bisschen dick aufgetragen, mein Lieber...
Finch des ned lustig?
Bin mir unsicher. Heißt der Doc das gut, wenn wir uns hier darüber beömmeln? Kanadiernich vielleicht sagen, oder?
Und ich werde im Gegensatz zu euch beschuldigt hier zu suchten, #izkla.
Beginnt nicht allzu vielversprechend, nur, um dann mit "After Last Night" einen wirklich wunderschönen Song zu liefern, und dann noch weitere Perlen - "Shy Boy" ist absolut grandios; ab "Psychedelic Switch" schwächelt es dann etwas und wird erst mit den letzten beiden Songs noch einmal wirklich interessant. Aber auch wenn manches hier doch anfangs abschreckend wirken kann, schlecht ist das Album zu keinem Zeitpunkt. Eine Zuckergussvariante einer anderen Kanadierin, klingt es doch teils sehr nach Lights; bin aber froh, dass ich mich nicht habe abschrecken lassen. Weiß trotzdem nicht, wie ich es insgesamt bewerten soll. Aber Spaß macht es.
"Aber Spaß macht es"/5
Hast hier eher standardige Songs ausgewählt, IMHO. Oder zumindest solche, die was weniger gefeiert werden. "Kamikaze", "Put It To Rest", "Kollage" sind auch ziemliche Brecher. Mit den letzten beiden konnte ich zuerst gar nix anfangen. Viel Unterschiedliches jedenfalls, und nach jedem Durchgang gibts bei mir andere Favoriten.
@Gleep Glorp
Das trifft es wahrscheinlich wirklich...
@Ragism
Na ja, falls es noch nicht ganz aufgefallen ist (nicht, dass ich die Aufmerksamkeit erwarte), ich bin ja nun einmal großer Fan der Band Air und anderer französischer Elektropop-Künstler*innen. Und die Tracks von "After Last Night" bis zu "Shadow" sind da für meine Ohren am nächsten dran. "Stadium Love" weckt bei mir wiederum eine starke Justice-Assoziation. Mit so etwas gewinnt man bei mir einfach. "Kamikaze" hat wiederum ein cooles Instrumental, aber der Gesang hat mich nicht so ganz überzeugt. (Bislang.) Die erwähnte Lights-Ähnlichkeit mag ich aber natürlich auch, vielleicht höre die aber auch nur ich heraus...
Oh, dann sollte Dir "Psychedelic Switch" doch eigentlich sehr zusagen. Eine bessere Daft-Punk-Hommage habe ich bisher noch nie gehört. Wir auch immer - freut mich sehr, wenn Zeitgenossen etwas aus ihrem sehr bunten, breit gefächerten Werk gefällt!
Da hab ich auch was gemacht, wenns wen interessiert: https://youtu.be/V5goVIi6CTA?si=wUhslcN1zt…
Schamloser Plug, aber gute Besprechung!