laut.de-Kritik

Der nostalgische Reboot einer unterschätzten Sängerin.

Review von

Wie viele gute Hooks muss Clairo noch schreiben, bis die Indie-Kids nicht mehr gemein zu ihr sind? Wann immer sie Thema wird, werden Leute nicht müde, ihr ihre reichen Eltern mit Industrie-Connections aufs Brot zu schmieren. Dabei hätte "Immunity" sie gut und gerne davon erlösen können. Songs wie "Bags" oder "Sofia" machen Bedroom-Pop mit so viel mehr Charme und Gefühl für Refrains als 90 Prozent ihrer Gitarren-Fidel-Kollegen. Aber ein bisschen versteht man es ja schon: Clairo ist jung, weiblich und hat sich die längste Zeit nicht geschämt, ein bisschen Basic zu sein. Aber damit ist Schluss: Clairo kommt mit "Sling" in ihrer Ära der Respektierbarkeit™ an.

Warmer Indie-Folk-Sound, Referenzen an Joni Mitchell, Elliott Smith und die Carpenters, Jack Antonoff produzierte. Und so viele Herzen sie damit erquicken wird, wie jemand anderes zu klingen, die luzidesten Momente des Albums sind die, in denen sie sie selbst bleibt.

So sehr man jetzt schon mit dieser Platte Referenzen-Bingo spielen möchte, ihr wahrscheinlich bester Song "Amoeba" ist ein "Immunity"-Cut im Retro-Remix. Die subtile Gitarrenmelodie und der Part bauen sich schleichend auf, dann kickt der Refrain mit Eingängigkeit und einer unglaublich effektiven Vocal-Melodie. Die atemlose Gleichgültigkeit, mit der sie die Schlussline "Show up to the party just to leave" kickt ist eine Meisterklasse des Gen Z-Pops.

Diese Momente sind übrigens alle 100 Prozent Clairo – dieses kurzweilige Einfädeln eines Riffs oder einer Extra-Hook in einen Song, um den musikalischen Payoff eines Motivs noch einmal weiter zu steigern. Das ist Pop-Sensibilität, für die sich Indie oft ein bisschen zu schnöde ist, das aber viele Songs auf "Sling" eine Klasse stärker macht. Ähnlich verhält es sich auf "Harbor" oder "Reaper", die ebenfalls diese kleinen Momente des Aufblühens mitbringen, die kurz das Tempo oder die Intensität anziehen. Besonders der instrumentale Cut "Joanie" gegen Ende des Albums strotzt nur so vor cooler musikalischer Ideen und kleiner Aufbruchsmomente.

Parallel zu diesem intuitiv guten Songwriting haben sich auch ihr Texte entwickelt. Alles kommt ein bisschen abstrakter daher, enthält mehr Spezifika, die aber wenig hinzufügen, außer manchen Szenen einen privaten, intim kryptischen Filter zu verleihen. Am besten bleibt sie, wenn sie einfach sagt, was sie denkt. "And two pats on the back, 'It just takes time' / It's getting late / Since when did taking time take all my life?" singt sie auf "Just For Today" über das Wegbewegen von einer gescheiterten Beziehung. Wenn sie auf "Reaper" unerwartet konkret für eine 22-Jährige über Mutterschaft nachdenkt, dann haken simple Zeilen wie "I keep forgetting that I'll have a family" tief ein, bevor sie ihren Unsicherheiten und Ängsten Raum gibt.

Tatsächlich entpuppt sich das so ansprechende 70er-Sounddesign als dünner Lack. Ja, die musikalische Umsetzung in seiner Simplizität, in der Reduktion auf essentielle Harmonien und sogar die gegen Ende der Platte hin und wieder einsetzenden "Abbey Road"-Streicher kommen ihren Vorbildern musikalisch überraschend nahe. Einen großen Teil dafür leistet zweifelsohne der langsam etwas überpräsente Jack Antonoff, der den Mix von alten Mitchell- oder Smith-Alben stark reproduziert.

Aber genau aus der Heldenverehrung dieser Alben entstehen ein paar der schwächsten Momente auf "Sling". Manchmal verfällt auch sie in Indie-Schlafmützigkeit, in der man vier Minuten durch unprominente Gitarrenläufe fiedelt und dabei Coffeeshop-Poesie über Gott und die Welt vorschlafwandelt. "Just For Today" ist da trotz guten Texte so ein Kandidat, auch die Lead-Single "Blouse" kommt trotz mehrmaligen Hörens kaum aus dem Saft. Sie formuliert treffende Zeilen über Marginalisierung und Respektlosigkeit gegenüber Frauen in der Musikindustrie, aber hätte ein bisschen Puls diesem Song geschadet?

Der völlige Minimalismus, dem Clairos Heldinnen und Helden manchmal gefrönt haben, verlangsamt das Pacing von "Sling" stellenweise. Vor allem deswegen, weil ihre objektiv nicht sehr starke Stimme auch auf Album zwei noch von ständiger Doppelung abhängig ist, die einen richtigen Akustik-Sound nicht zulässt. Um diese Schwäche herum hat sie ja eigentlich ihren Stil entwickelt, der diese großartigen Hooks und Riffs hervorbringt.

Da kann man nur hoffen, dass sie ihre Stärken weiter fest im Blick behält: Zum einen ist sie eine pointierte, nahbare und einfühlsame Texterin, zum anderen schreibt sie eben diese Hooks, die ihre Marke Indie so viel eingängiger macht als die ihrer Kollegen. Das funktioniert im musikalischen 70er-Gewand genauso gut wie auf "Immunity". Aber auch, wenn diese Ära ihr ein bisschen mehr Respekt verleihen könnte, hoffe ich, dass Nostalgie und Heldenverehrung nicht ihre Endstufe sein werden. Dass es wie ein paar große Namen der Vergangenheit klingt, ist nicht der Aspekt, der "Sling" in den besten Momenten großartig macht. Die Qualität dieses Albums kommt in seinen besten Momenten eindeutig von Clairo.

Trackliste

  1. 1. Bambi
  2. 2. Amoeba
  3. 3. Partridge
  4. 4. Zinnias
  5. 5. Blouse
  6. 6. Wade
  7. 7. Harbor
  8. 8. Just For Today
  9. 9. Joanie
  10. 10. Reaper
  11. 11. Little Changes
  12. 12. Management

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