laut.de-Kritik

Auch in alte Schnulzen legt der Sir noch loderndes Feuer.

Review von

Cliff Richard ist so lang im Business, dass er die Anfänge des Rock'n'Roll noch ohne Streichinstrumente erlebte. 18 Saiten und ein Drum-Set - das war alles: Melodie-, Bass- und Rhythmusgitarre bestimmten den Sound. Klassik-Liebhaber George Martin schichtete den Beatles dann Tonspuren eines Streicher-Ensemble auf ihren "Yellow Submarine"-Soundtrack. Nach Jahrzehnten von "Night Of The Proms" erscheint es 2023 als völlig normal, dass dauernd jemand ein Orchester um seine Rock-Hits aufspielen lässt.

Für die Retrospektive "Cliff With Strings - My Kinda Life" hatte Cliff in seinem immensen Katalog die Qual der Wahl. Anders als beim epochalen Orchester-Werk des Kollegen Rod Stewart scheint es sich bei "Cliff With Strings" um eine Compilation zu handeln. Mehrere Indizien dafür: Es fehlen die Angaben, welches Orchester auf dem Album spielt. Für neue Aufnahmen klingt Richards Stimme manchmal auffallend jung. Und das Material hat einen recht heterogenen Klang - wohl für jeden Track ein anderes Studio und Ensemble. Die Plattenfirma schreibt von "12 Tracks aus sieben Jahrzehnten in neuer Einspielung" und widerspricht sich gleich selbst mit Lob auf eine Aufnahme vom 14. Oktober 2015 und eine weitere aus einem "Millenium-Countdown-Konzert aus dem Jahr 1999".

Nun, auch wenn sie teilweise alt sind, hat man die meisten Einspielungen nicht als solche vernommen. Eine schon: Die Ballade "Suddenly" aus dem Jahr 1980 war immer ein Orchesterstück. Das Duett mit der schmachtenden Olivia Newton-John (gestorben 2022) setzt der Schauspielerin ein würdiges Denkmal. Sie hatte eine richtig die Ohren kitzelnde Stimme und einmalige Ausdruckskraft, und das Stück ist ein brutal guter Feger. Wenn man denkt, er sei vorbei, biegt Cliff in die Bridge ein, und aus Softpop wird Northern Soul. (Autor des Hammer-Tunes war übrigens John Clifford Farrar, zeitweilig in Cliff Richards Begleit-Band The Shadows.)

Kurz vor 1980, in der zweiten Hälfte der Siebziger, lief es super für den Sänger, er hatte eine richtig gute Zeit. Man hätte erwarten können, dass er das Abflauen des Rock'n'Roll und des Immer-Sommer-Teenpop aus seinen Anfängen karrieretechnisch vielleicht nicht überleben würde. Etwa wenn man sieht, dass Roy Orbison die gesamten 70er keine einzige Charts-Platzierung ergatterte und von 1979 bis '88 nichts mehr aufnahm. An Roy erinnert "The Young Ones" in der aufgemotzten Fassung fatal, und auch Cliffs Vocals lehnen sich hier an dessen Timbre an.

Cliff dagegen hob in den Late Seventies in sein zweites Karriere-Hoch ab, traf mit dem hervorragenden "Rock'n'Roll Juvenile"-Album Ende '79 einen Nerv. Damals eine harte Alternative zu Smokie, ein poppig-kompaktes Pendant zu Al Stewart, ein softes Gegenangebot zu The Sweet - kurz: das perfekte Produkt!

Darauf findet sich zum Beispiel "Carrie". Die Ballade kennen wahrscheinlich viele. Sie dem Namen Cliff Richard zuzuordnen, wird wohl wenigen gelingen. Ihre schöne Melodie ist einfach Allgemeingut geworden. Die Geschichte ist relativ traurig und dramatisch. Eine gewisse Carrie verschwindet. Niemand hat ihre neuen Kontaktdaten. Es ist eine Zeit ohne Handy und Social Media. Eine neue Adresse und Telefonnummer hinterlässt sie nicht. "Carrie doesn't live here anymore (Carrie) / Carrie used to room on the second floor (on the second) / Sorry, that she left no forwarding address / It's a mystery-hi-hi-y..." - Der liebenswerte Klassiker verdient auf jeden Fall ein Wiederhören. Schon drei Jahre nach dem Release vertraute Cliff die Nummer dem London Philharmonic Orchestra an, sie bot sich dafür einfach an.

Nach "Carrie" und ein paar weiteren tollen Songs endet die alte LP "Rock'n'Roll Juvenile" genau so, wie auch dieses neue Streicher-Album: auf "We Don't Talk Anymore". Das Lied über eine frostige Trennung, heute würde man sagen, übers Phänomen des 'Ghostens', passt thematisch ein bisschen zu "Carrie" und dem Entschwinden einer Person, mit der man sich eine Zukunft ausgemalt hatte. "We Don't Talk Anymore" war natürlich 2020 die perfekte Antwort aufs Social Distancing. Das BBC-Orchester spielte die Nummer mit dem zugeschalteten Cliff über Split-Screen in einer virtuellen Konferenz ein. Dieser Mitschnitt dürfte eine der jüngeren Aufnahmen hier sein. Erstaunlich aber, wie der Senior da die Tonleiter im Refrain nach oben klettert. Seine Stimme hat sich also doch phänomenal gut gehalten.

Zum Glück trug Sir Cliff in seinen Klassik-Versionen nicht zu dick auf und ließ die Lieder am Leben, ohne sie unter zu fetten Symphonie-Schichten zu untergraben. Nur in "Peace In Our Time" (1993) wird es zu viel des Guten. "The Best Of Me" bewahrt sich trotz Pathos und Lebensrückblick, was ja auch das Album-Thema ist, ein luftiges Gitarren-Intro und dröhnt satt voller Raumklang. Klassikpop-Experte David Foster und Kitsch-König Richard Marx schrieben die Nummer.

Cliff konnte auch selbst Songs komponieren und texten, wobei er die Hits in der Regel mit Fremdmaterial landete, hiermit immerhin einen Platz 61 bei uns. "Wired For Sound" stammt aus den Spätausläufern der Disco-Ära, ein Rang 44 in den deutschen Charts, und wie Disco-Bumms eben oft so war, gab's oft künstlich gesampelte Streicher. Warum also nicht gleich echte nehmen - funktioniert auch, demonstriert die dynamische Aufnahme. Sie ist aber mehr okay als dass sie ein Highlight wäre, macht das Klangbild aber bunter.

Eine ganz andere Richtung schlägt der Glitzer-Swing "Living Doll" ein, die dem Aufnahmenstandard und der Stimme nach wirklich neu sein dürfte und ordentlich Lust auf die Weihnachtszeit macht, wenn solche Musik wieder in Kaufhäusern läuft. Denn hier hört sich dieser antike Stil brillant an, ebenso in der Easy Listening-Version von "Summer Holiday". Bei diesem Lied ist es eindeutig, dass der gealterte Sir singt, und es ist reizvoll, wie selbst ein Sommer-Hit symphonisch und überladen doch sehr gut wirkt. Beide, "Summer Holiday" und "Living Doll", waren frühe und riesige Hits für den Engländer und gebürtigen Inder.

Zu "Everything I Do (I Do It For You)" muss man wenig sagen, außer dass es die perfekte Alternative für alle ist, denen das Gezupfe im Original immer auf den Keks ging. Wie herzerweichend Cliff hier "I will fight for you / yeah, I'd lie for you" choreographiert, als führe sein Gesang ein Ballett auf, beeindruckt. Wie viel frisch loderndes Feuer er in diese abgedudelte Schnulze legt, überrascht. Wie er das "fo-o-o-o-or in "not worth fighting for" im Vibrato trillert, lässt sich von keinem Bryan Adams dieser Welt übertreffen. Und wer mit Geigen nichts anfangen kann, sollte zumindest den letzten Track mal gehört haben, also "We Don't Talk Anymore", inklusive filmmusikalischer Qualität, extremer Sound-Brillanz, Cliff im Falsett. Schon aus Verbeugung vor diesem Mann, seinem Lebenswerk und seinen Beiträgen zur Geburt des Pop!

Trackliste

  1. 1. The Best Of Me
  2. 2. Carrie
  3. 3. My Kinda Life
  4. 4. Wired For Sound
  5. 5. Living Doll
  6. 6. Marmaduke
  7. 7. Everything I Do (I Do It For You)
  8. 8. Suddenly
  9. 9. Peace In Our Time
  10. 10. Summer Holiday
  11. 11. The Young Ones
  12. 12. We Don't Talk Anymore

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1 Kommentar mit 2 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Konnte die Review nicht weiterlesen weil ich zählen musste und nur auf 16 Saiten komme…

    • Vor einem Jahr

      Geht mir genau gleich.

    • Vor einem Jahr

      Ihr alten Besserwisser. Autor sagt dazu:

      Jet Harris, der damalige Bassist von Cliff Richard, führte den elektrischen Bass in die englische Musikszene ein. Er hat definitiv überwiegend 6-saitige Bässe bespielt, dafür ist er auch berühmt. Jet Harris starb 2019 und erhielt viele Nachrufe. Darin findet sich zB das Statement Paul McCartneys, ohne Jet (erste Welle Rock'n'roll) als Vorbild wäre er mit den Beatles (zweite Welle) nie Bassist geworden.