laut.de-Kritik
Schweizer Dancehall sollte man auf der Rechnung haben.
Review von Philipp KauseWährend die deutsche Dancehall-Szene pennt, geht in der Schweiz in den franko- wie auch germanophonen Landesteilen einiges ab. Ein Vorreiter ist der Jungle-Fan und ehemalige DJ einer Reggae-Radio-Show aus dem Raum Solothurn in der Nordwest-Schweiz, der heute z.B. Afrobeats im Alpenraum produziert: Collie Herb.
Herb lud sich für sein Relax-Album "Detox" auch eine Künstlerin mit Wurzeln in Mosambik ein, Nilsa. Auf einer schönen Melodie ergehen sich die beiden zweisprachig, auf Schwyzerdütsch und Portugiesisch in Erinnerungen, zum Beispiel an die Kindheit, als Patrick a.k.a. Collie Panini-Spielerbildchen sammelte ("Memórias"). Nilsa, die heute in der Eidgenossenschaft lebt, tritt zu Fanfaren-Effekten aus der Soundsystem-Culture rappend wie singend auf. In beiden Vortragstechniken bezirzt sie mit anmutiger Stimme.
Auch sonst thematisiert die konsequent in Mundart gehaltene Platte viel Familiäres, was mit dem Einschnitt Corona zu tun hat. "Die letzten Jahre waren für Künstler:innen, aber auch für die Gesellschaft und für Collie selbst alles andere als einfach", flankiert der Promotext, gleichwohl Collie beim erzwungenen Rückzug ins Private einiges Positives erlebt hat: eine Hochzeit und die Geburt der ersten Tochter, für die er "Schlaf Schön" als atmosphärisches Lullaby komponierte. Schnipps- und Hack-Beats kontrastieren hier feinfühlige Lyrik und warme Harmonien.
"Dehei" drückt zu warmem Vintage-Orgel-Sound widersprüchliche Bedürfnissen aus: Reiselust versus Sesshaftwerdung, die Verwurzelung zuhause und Optionen für die Zukunftsplanung. Am Ende unterstreicht ein Jazz-Guitar-Solo die Seriosität.
Im Gegensatz zum Fokus aufs private Erwachsenwerden und auf gediegene Lebensführung setzt sich der 37-Jährige unter Einbeziehung von Afrobeats und Tropical-Pop an die Speerspitze des Zeitgeists. "Härz > Kopf" verteidigt diese modernen Soundfarben, setzt auf "a Beat mit od'r ohne Radio-Plays" und droppt die Message: Wenn Algorithmen die Trends verschlafen, setzt Collie Herb sie trotzdem um. Das Kiffer-Lied "Pass Di Kouchie", vor vier Jahrzehnten Nummer eins in Deutschland, bounzt in elektrifiziertem Gewand mit dem prominenten jamaikanischen Gast Perfect Giddimani unter dem Titel "It Haffi Bun".
Der Vorgänger "Collieversum" erschien zwar schon im Ausnahmezustand geschlossener Clubs, war aber, produziert im Vibe der vorherigen Jahre, entsprechend out-going. "Collieversum" erreichte Platz fünf der Schweizer Albumcharts. An das damalige Lebensgefühl erinnert jetzt vor allem "Summer Idr Stadt". Das Lied weckt mit süßen Eiswürfel-im-Glas-Soundeffekten bereits Lust auf den nächsten Sommer mit Grill und Baden im Fluss. Wo sich die "Queen im Bikini" räkelt und mit Gershwin-Zitat "däs Läben easy" ist, gilt für Collie: "Sogar da größte Griasgram muss da positiv si."
Der Titeltrack "Detox" ist ein leicht melancholisch gefärbter Upbeat-Dancer, der den Stress der Pandemie- und Inflationszeit für einen kleinen Moment abstreift. Zugleich verarbeitet er - ähnlich wie in der Ballade "1991 - Forever" - den überraschenden Tod eines engen Freundes in dieser Zeit. Zu sphärischen Flächentönen lässt das kurze und impressionistische Lied einem Spieluhren-Sequencer seinen Lauf, der Text beschreibt knapp, wie die Tränen flossen.
Mehrere Stücke folgen der alten Genre-Öffnung von Shabba, Shaggy und Maxi und paaren souligen Ragga mit lebhaften Melodien sowie entspannt vibenden R'n'B mit One Drop-Taktung. "Ride ft. Sophie", "Do" - Collie zufolge mit Drill-Anleihen - und "That Girl ft. Mr Maph" funktionieren mit dieser Rezeptur hervorragend.
"Detox" ist vielleicht noch immer ein Geheimtipp, aber den Standort Schweiz für Dancehall, Reggae, alternativen Hip Hop und R'n'B sollte man auf der Rechnung haben.
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