laut.de-Kritik

Zu Jazz für R'n'B, zu R'n'B für Jazz, und dann diese Reime!

Review von

1997 sollte ein ereignisreiches Jahr werden. Prinzessin Diana stirbt bei einem Autounfall. Die Weltöffentlichkeit bekommt zum ersten Mal das geklonte Schäfchen Dolly zu Gesicht. Soundgarden lösen sich auf, dafür vereinen sich Black Sabbath wieder. Biggie wird erschossen, Versace ebenfalls. Dafür erblickt Desiigner das Licht der Welt, der zwanzig Jahre später in aller Munde sein wird. Doch 1997 wäre nicht 1997, wenn eine knapp anderthalb Meter große Texanerin sich nicht einen Headwrap aufgesetzt und ihr Debütalbum veröffentlicht hätte, zu dessen Verständnis es einen neuen Genrebegriff brauchte.

Mit "Baduizm" gewährte Erykah Badu dem Hörer erstmals Zugang zu ihrer Welt. Eine Welt, die eigentlich ein ganzes Universum bedeutet. Darin kreisen die Planeten Jazz, Soul, R'n'B und Hip Hop um die Sonne der Selbstreflexion und den Gedanken der Five Percent Nation. Ruhig und langsamen bewegen sie sich in ihren Umlaufbahnen, geben sich lustvoll dem Spiel des Fangens hin, ohne sich jemals einzuholen. Oder um es mit Badus Worten zu sagen: "My cypher keeps moving like a rolling stone."

"Baduizm" bedient sich nicht einfach nur bei verschiedensten Musikrichtungen, sondern umarmt diese, taucht in sie ein und honoriert sie mit einer Hingabe, wie man sie sonst nur von Genreklassikern kennt. Kein Wunder also, dass Kritiker und Vertriebler alle Mühe hatten, einen Namen für dieses Baby zu finden. Eindeutig zu viel Jazz für R'n'B, definitiv zu klare Bekenntnisse zu R'n'B für Jazz. Und dazu die Reim- und Samplestrukturen des Hip Hops!

Die Instrumentalisten des Albums, zu denen eine damals noch ziemlich unbekannte Band namens The Roots gehörte, scheinen in dieser Zwischenwelt jedoch vollkommen aufzugehen. Die Energie und Kreativität der Aufnahmen, die eher Jamsessions als wirklicher Studioarbeit glichen, sind in jedem einzelnen Takt förmlich greifbar.

Die organischen Klänge erschaffen eine warme Atmosphäre wie Kerzenlicht, Erykahs unverkennbare Stimme lässt ihr Wachs ganz sanft und langsam schmelzen. So zaghaft und bedacht, wie sie die Silben ihrer Worte herauslässt, so ernst und melancholisch können sie ausfallen. Verspielt lenkt Erykah die Aufmerksamkeit auf die spirituellen Gedanken eines höheren Bewusstseins, lehrt von Weisheit, Wissen und Verständnis und nutzt die Bilder der Nation of Gods and Earths, um den Hörer hinters Licht zu führen: "I was born under water / with three dollars and six dimes / yeah you might laugh / 'cause you did not do your math." ("On & On")

Mit derselben Verspieltheit wendet sie sich ernsteren Themen zu, der Verzweiflung einer bald alleinerziehenden Mutter ("Other Side Of The Game"), dem Schmerz einer unerwiderten Liebe oder der Weltfremdheit der Gesellschaft, in der sie lebt ("Drama"). Die Leichtigkeit, mit der Erykah Badu den Hörer alsbald zu softeren Themen führt, besitzt eine fast schon hypnotisierende Kraft.

Die entlädt sich erst an anderer Stelle wieder: "4 Leaf Clover". In dem R'n'B-Song verändert Erykah ihren Stimmeinsatz nur sachte, lässt die Erotik deutlicher - und dennoch dezent - wirken und erschafft sofort das Bild warmer, feuchter Körper, die sich aneinander ergötzen. "Here I am, on a cloud / if you want me take the chance try love out loud / as I drift through the sky / shooting cupid's loving arrow you just might try."

Nicht das durchdachte musikalische Setting, nicht die Sanftheit ihrer Stimme, deren gleichzeitige Kraft an die ganz großen des Souls erinnert, nicht ihre zurückhaltende Nachdenklichkeit macht ihren unglaublichen Reiz aus. Es liegt an der Selbstverständlichkeit, mit der Erykah Badu all das verbindet, was "Baduizm" zu einem großartigen Album und sie zu einer der wichtigsten Künstlerinnen unserer Zeit adelt.

Es ist nur verständlich, dass dieser vielseitigen Frau der Begriff Neo-Soul nicht behagte. Wer wird schon gern in eine Schublade gesteckt? Dennoch bestätigt sie ihre Verbundenheit zu dieser Stilrichtung im Laufe der Zeit immer wieder, mal mit wilder Wut, mal mit heischender Erotik, mal im Kollektiv der Soulquarians. Erykah Badu ist die Verkörperung des Neo-Souls: eine starke Persönlichkeit, die ihren Gedanken mit leidenschaftlicher Musikalität Ausdruck verleiht.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Rim Shot - Intro
  2. 2. On & On
  3. 3. Appletree
  4. 4. Other Side Of The Game
  5. 5. Sometimes - Mix #9
  6. 6. Next Lifetime
  7. 7. Afro - Freestyle Skit
  8. 8. Certainly
  9. 9. 4 Leaf Clover
  10. 10. No Love
  11. 11. Drama
  12. 12. Sometimes
  13. 13. Certainly - Flipped It
  14. 14. Rim Shot - Outro

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7 Kommentare

  • Vor 6 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 6 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 6 Jahren

    Endlich. Absolut verdienter und toll geschriebener Meilenstein. :klatbier: Das Livealbum finde ich noch eine Nummer mitreißender, aber mit "Baduizm" hatte sich für mich zwischen Soul, R'n'B, Jazz, Hip-Hop und zwischen emotionalen und spirituellen Themen sowie leicht gesellschaftskritischen Tönen eine ganz eigene musikalische und lyrische Welt aufgetan. Finde auch ihre restlichen Platten ziemlich großartig, allen voran "New Amerykah Pt.1 (4th World War)".

  • Vor 6 Jahren

    Endlich. Badu war hier so etwas von überfällig. Danke für diesen tollen Text, Ana.

  • Vor 6 Jahren

    Kann SK nur zustimmen: Endlich, endlich, endlich! Diese Review hat tatsächlich noch total gefehlt. Einer meiner absoluten Lieblingsalben.

  • Vor 6 Jahren

    Ihre beste Platte. Mit Abstand. Erykah Badu, Soulquarians-Mitgründerin und Neo-Soul-Königin, schafft mit ihrem ersten Album ein ganz spezielles Gefühl...viel Wärme, Zuneigung und Gänsehaut. Retrospektiv im Sound (Jazz/Soul/Afrobeat), innovativ im Gesang und einfach super authentisch hinsichtlich Texten. Das Gesamtpaket stimmt einfach und man kauft ihr alles ab. D'Angelo und Erykah Badu = ein Traumpaar in diesem Genre (Hörtipp: D'Angelo "Brown Sugar"). Ein Album, das unskipbar zu hören ist und auch auf Endlosschleife funktioniert. Egal ob laut aufgedreht oder zurückhaltend im Hintergrund laufend. 5/5!