laut.de-Kritik

Das Album, das andere vor lauter Realkeeping nicht hinbekommen.

Review von

Dieses Album sollte man nicht nebenbei hören. Zumindest nicht, wenn man Tätigkeiten erledigt, die ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit benötigen, wie Holzbalken zuschneiden, Gabelstapler fahren oder Hirn-Operationen durchführen. Im Ernst, das endet nicht gut. "Blinded By The Neon" fasziniert dermaßen, dass es dich mit den ersten Bassläufen bereits ins Nirwana hypnotisiert.

Das mutet jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben an, ist es aber nur bedingt. Der erste Langspieler von Ferge X Fisherman besitzt das Potenzial, die Welt um sich herum vergessen zu machen. Wegen seiner Atmosphäre. Mit seiner ungezügelten Musikalität. Weil er die richtigen Worte findet. Und weil er das Unabdingbare besitzt, das jede gute Geschichte braucht: Hoffnung.

Hoffnung. Die glänzt zu Beginn von "Blinded By The Neon" zunächst mit Abwesenheit. Der Start erschien so vielversprechend. Mit ihrer EP "Gone Fishing" katapultierten sich Ferge X Fisherman sehr schnell in sehr viele Liebhaberherzen, spielten sich einmal quer durch Deutschland.

Dass große Beliebtheit aber noch lange nicht heißt, dass man als Musiker*in ein sorgenfreies Leben führen kann, auf diesem harten Boden der Realität schlagen auch Rapper Fisherman und Produzent Ferge auf. "I been pacin' all day to get my tape played in the radio station" und "thirstin' for the fruits of my labours" heißt es gleich im ersten Song. Statt frei und glücklich den "Head On Stage", den Kopf auf der Bühne zu haben, hängt er den Sorgen nach, und statt "Backstage" mit Freunden zu chillen, versinkt Fisherman in seinen eigenen deprimierenden Gedanken: "Scratching on the surface, trying to dig deep, searching for the purpose of what I achieve."

Der Kontakt zu sich selbst geht verloren, womit Selbstbewusstsein und Zufriedenheit Zweifeln und Frustration weichen. Die Welt um einen herum scheint sich fortzubewegen, nur man selbst tritt auf der Stelle und sieht sich mit Menschen konfrontiert, deren Oberflächlichkeit zum Himmel schreit. Da hilft nicht einmal mehr Omas gut gemeinter Rat: "Gotta get your ass back on track!" Wie einige von uns vermutlich wissen, dreht der Weg zur Selbsterkenntnis erst einmal ein paar Runden um die Verleugnung, bevor dem Spiegelbild Sätze wie "The real issue is you is I and I is you / so move motherfucker move, stop acting so cool" an den Kopf geworfen werden können.

"Reflections On My Windshield" stellt einen wichtigen Wendepunkt in der Erzählung von "Blinded By The Neon" dar. Dieses relativ kurze Stück, das eher gesprochen als gerappt wird, gerät so eindringlich, dass man selbst das Gefühl bekommt, man säße allein im Auto und blicke auf das ewig gleiche und doch fremde Gegenstück, dass da aus der Windschutzscheibe zurückstarrt. Man kann den Mut förmlich spüren, den es braucht, um diese Sätze laut auszusprechen, und auch die besondere Art der Nervosität, die dem Mut folgt. Sie bringt neue Energie, die von da an auch die Platte in Beschlag nimmt.

Der zweite Wendepunkt liegt in "Anna Nicole", einer Anspielung an die verstorbene Schauspielerin Anna Nicole Smith, deren schwieriger Lebensweg 2007 ein tragisches Ende nahm. Gemeint ist mit "Anna Nicole" aber vor allem, was sie verkörperte: ein Leben fürs Scheinwerferlicht, für Aufmerksamkeit, um die eigene Einsamkeit zu überspielen. Erst im darauffolgenden Song "Playing Different" zeigt sich zum ersten Mal wieder etwas, das man vorsichtig als Hoffnung bezeichnen kann: "They used to say this place is like a goddamn ashtray / everybody's burned out it's dirty and it's nasty / but the dreams ain't broken, they just walk with a limp if you ask me."

Dass "Blinded By The Neon" trotz der überwiegend trübsinnigen Gedanken nicht annähernd eindimensional wirkt, liegt auch an den weitläufigen, vielschichtigen Kompositionen von Ferge. Da sitzt jemand, der tief verwurzelt ist in Hip Hop, Jazz und Soul und genau deswegen aber die Freiheit und das Selbstbewusstsein besitzt, sich über die Grenzen dieser Genres hinwegzusetzen. Alle zwölf Songs sind definitiv aus einem Guss, aber keiner gleicht dem anderen. Das 'einsame Saxophon' durchzieht das Album als eine Art Motiv, wird in "Anna Nicole" zur sinnlichen E-Gitarre und wieder zum Saxophon, das plötzlich gar nicht mehr so allein dasteht.

Überhaupt ergießen sich Ferges Arrangements in einer so detailverliebt durchdachten Vielfalt, dass man sich aus den einzelnen Soundschichten gar nicht mehr herauswinden will. Die Loops, die Samples, die Rhythmen und Melodien ergeben einen derart atmosphärischen Raum, dass man sich gleichzeitig vorstellen könnte, Erykah Badu dazu über Apfelbäume singen, Tom Waits seine Einsamkeit glorifizieren, oder eben Fisherman wieder zu sich selbst finden zu hören.

Energetisierende Bässe, vibende Drums, verjazzte Pianos, spacige Synthies, Gospel und ein großes, würdiges Finale. Es gibt auf "Blinded By The Neon" so viel zu entdecken, dass es dem Album nicht gerecht wird, einen Song besonders hervorzuheben. Ferge X Fisherman haben genau das Album gemacht, das so viele Deep-in-Genre-Heads vor lauter Realkeeping nicht hinbekommen und das sehr vielen Menschen sehr viel Freude bereiten kann.

Trackliste

  1. 1. Head On Stage
  2. 2. Backstage
  3. 3. One Of My Best Friends (feat. Maniac)
  4. 4. Role
  5. 5. Reflections On My Windshield
  6. 6. Call You
  7. 7. Anna Nicole (feat. Florian Heimbuchner)
  8. 8. Playing Different (feat. Ki'luanda, Felisha George, Spiritchild)
  9. 9. City Serenade
  10. 10. Drunk On The Moon
  11. 11. Stumblin' (feat. Ki'luanda)
  12. 12. In My Shoes

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7 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 4 Jahren

    textlich/thematisch durchaus interessant. gerade anna nicole...aber ledier nicht meine art von musik :/ i'm sorry

  • Vor 4 Jahren

    So, jetzt auch mal ausführlicher zum Hinhören und Drumherum-Lesen gekommen. The Heart of Saturday Night ist nicht mein Lieblingsalbum von Waits, aber es gibt definitiv lausigere Vorlagen. Inhaltlich der Messlatte auch durchaus würdig, finde ich. Zweifeln und Rap ist ja nicht die gängigste (und mbMn auch selten die beste) Kombination, aber hier gelingt es, ohne zu arg ins Weinerliche abzudriften.

    Raptechnisch auch sehr ordentlich, ist natürlich kein Flex-Festival, aber harmoniert immer wunderbar mit der (sowieso hervorragenden) Musik und wirkt sprachlich auf mich als soliden Denglisch-Radebrecher sogar bemerkenswert elegant. Ein paar schöne Bilder ohne allzu kryptischen Schnickschnack, steht der Platte gut.

    Dass die "aus einem Guss" daherkommt, wie es in der Review heißt, kann man echt nur dick unterstreichen. Ausfälle wie beim Vorbild aus San Diego Fehlanzeige. Und ich finde sogar, dass es mit "Playing Different" den Standout-Track am Start hat, der mir bei The Heart of Saturday Night (nein, auch der Titeltrack ist das für mich irgendwie nicht) zum absoluten Liebling fehlt.

    Aufgerundet kann man die 5/5 schon geben. Tolles Album.