laut.de-Kritik
Utopie einer allvermögenden Worldmusic.
Review von Matthias MantheLange bevor sich das Jahr seinem Ende neigt, steht fest, dass es ein New Yorker Borough war, der den Pop 2008 in die Zukunft getragen hat wie kein anderer. Manhattan vermag mit Vampire Weekend zu wuchern, an der Kreativzelle Brooklyn kommt kaum einer vorbei. Jedenfalls niemand, der in den letzten Monaten Schlagwörter wie 'Hippie-Revival', 'Neo-Psychedelia', 'Experimental Rock' oder 'Weird Folk' nur gedacht hat.
Seit die Avantgarde um Yeasayer, Dirty Projectors und Grizzly Bear Ende 2007 einlud, bewährte Indie-Hörgewohnheiten anhand nicht-westlicher Kultureinflüsse herauszufordern, hat sich der Bezirk endgültig zum Hauptquartier der Pioniere gewandelt. Diese zweite Welle folgt durchaus der Traditionslinie des ersten Brooklyn-Hypes um Yeah Yeah Yeahs und Liars – wenngleich weniger musikalisch als denn im arty Anspruch, der sich aus der dortigen Künstlercommunity speist.
Auch Gang Gang Dance wurzeln tief in der Kunstszene New Yorks. Das Quartett arbeitete bereits für das Whitney Museum of Contemporary Art und dirigierte am 08.08.08 in Williamsburg um 8:08 Uhr für 88 Minuten ein Orchester aus 88 Drumkits. Damit sei aber genug gesagt zum Thema Kunst und Künstlichkeit, sind das doch Zuweisungen, die auf das überaus organische "Saint Dymphna" kaum passen. Album Nummer vier ist nichts weniger als die gegenwärtig verführerischste Utopie einer Worldmusic, der alle Himmelsrichtungen offen stehen.
Mit beeindruckendem Selbstbewusstsein erdichten Gang Gang Dance eine Reise so weit weg vom Massentourismus, dass die Kritik in Schriftform eigentlich durchweg scheitern muss. Verschlungene Routen führen vorbei an indonesischen Gamelans und brasilianischen Gitarren, über SciFi-Soundscapes und fiebrige Percussion-Polyrhythmen; durch zwielichte Progrock-Waben, orientalische Königspaläste und unwirkliches Dschungeldickicht.
Ihren Fixpunkt findet jene Ereignishaftigkeit in Liz Bougatsos' transzendenter Stimme, dem Vernehmen nach zwischen Bollywood, Cabaret, CocoRosie und Onomatopoesie geschult. 'Neo-Tribal' hat man die Musik bereits benannt, 'Neo-Primitivist'. Es sind hilflose Phrasen in Anbetracht rockistischer Arabesken, mystizistischen Technos und State-of-the-art-Grime.
Dem Begriff 'fordernd' verleiht der Vierer ganz neue Bedeutung. Gleichzeitig heißt es, "Saint Dymphna" sei ihr bislang zugänglichstes Werk. Tatsächlich erlauben "First Communion" und "House Jam" schnell Einlass in die Schatzkammern. Um diese zwei großen Popmomente herum zimmert das Gespann einen blickdichten, hundertfarbigen Stilschleier.
All Tomorrow's Parties-Kurator Vicent Gallo hat schon 2005 von Gang Gang Dances Außerordentlichkeit gewusst und sie auf das Festival eingeladen. Hierzulande bleibt die Band vorläufig lediglich das mit Abstand dringlichste Argument für die Anschaffung teurer High-End-Kopfhörer. Und für Klangforschungsreisen nach Brooklyn, New York, versteht sich.
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