laut.de-Kritik

Zwischen farbenfrohem Pop und zerquältem Alptraum.

Review von

"Are Friends Electric?" fragte Gary Numan bereits Ende der 70er. Die Freunde des unangefochtenen Paten von Elektrorock, -pop und New Wave sind aus ganz irdischem Fleisch und Blut. Trent Reznor oder Dave Grohl sind nur zwei dieser Jünger, die ihn als eine Hauptinspirationsquelle für das eigene Schaffen nennen. Mit "Splinter (Songs From A Broken Mind)" kommt Studioalbum Nr. 21 in die Läden. Einmal mehr eine superbe Reise ins musikalische Herz der Finsternis.

Seit dem 1994er Werk "Sacrifice" liefert Numan ein hervorragendes Album nach dem anderen ab. Gekrönt vom 2011er Meisterwerk "Dead Son Rising". Ist bei so hohem Standard noch Luft nach oben für den "Splinter"? Die Antwort lautet: Ja! Statt vom höchsten Punkt des musikalischen Berges wieder ab zu steigen, macht er es sich lieber auf dem eigenen Kreativgipfel bequem. 2013 gibt es deutlich weniger Gitarren als von den letzten Longplayern gewohnt. Dafür perfekte Elektrosounds zwischen sperrig und Balsam.

Musikhistorisch gilt Numan als Erfinder der Synthiehookline. Auch auf dieser LP lässt er sich diesen Titel nicht eine Sekunde lang streitig machen. Scheinbar simple Hooks wie etwa zu Beginn von "The Calling" verleihen den komplexen Tracks ihren entscheidenden Hauch songdienlicher Eingängigkeit. Ein echter Gegenpol zu den teils eruptiven Störfeuern aus der Steckdose ("A Shadow Falls On Me"). Die Mischung bringt es.

Dieses Jonglieren zwischen Harmonie und Disharmonie hat nicht nur die Entwicklung der Nine Inch Nails (etwa mit "Telekon") entscheidend geprägt. Die enge Verwandtschaft hört man in Strophen wie "Here In The Black" überdeutlich. Vielmehr ist der akustische Wechselstrom dem Engländer eher sowas wie eine natürliche Widerspiegelung des eigenen Innern. Nicht umsonst wurde sein Leiden unter einer milden Form des Asperger Syndroms mehr als einmal angedeutet.

Entsprechend natürlich fließt sein mit unzähligen Dornen besetzter Notenteppich, den er vor dem Hörer wie einen Ausschnitt unbekannter Welten ausrollt. Die eigene Stimme nutzt er hier effektiver und deutlich emotionaler als ehedem. Wem Kulthits wie "Cars" immer eine Prise zu kalt klangen, wird den sehr ästhetischen Ausdruck schätzen. "Lost" ist einer dieser überaus intensiven Momente. Numans Markenzeichen, die zwischendrin nach oben gezogenen Töne, eine Art dramaturgisches Kieksen, wirken als Gegenpol zum warmen Grundton besonders intensiv.

Beeindruckend, mit welch traumwandlerischer Unerschöpflichkeit der Londoner eine Melodie nach der anderen aus dem Hut zaubert. Zusammen mit den wie immer selbst produzierten elektronischen Klangarchitekturen entwickelt er von Song zu Song einen eigentümlich suggestiven Sog zwischen farbenfrohem Pop und zerquältem Alptraum. Die Qualitätsdichte ist dermaßen hoch. Jedes Stück ist eigentümlich schimmerndes Juwel. Gern auch mal in ausladender Stadionmacker-Geste wie etwa "Who Are You".

Dennoch: Wie ein Mahlstrom steuert die gesamte Platte den Lauschenden auf das kulminierende Finale "My Last Day" zu. Der Verzicht auf vordergründige E-Gitarren kommt Numans Händchen für klassische Arrangements (wie in "The Calling") in tragender Nebenrolle hier besonders zugute. Nach einem explizit ruhigen Einstieg legt Gary alles irdische ab. Elektropercussion trifft auf symphonische Streicher. Beide schaukeln sich bis zum alles verschlingenden Crescendo aneinander hoch. Orgasmus für die Ohren. Numans Vocals kehren nicht noch einmal zurück. Längst hat er den eigenen Planet of Sound ver- und den Sterblichen überlassen.

Trackliste

  1. 1. I Am Dust
  2. 2. Here In The Black
  3. 3. Everything Comes Down To This
  4. 4. The Calling
  5. 5. Splinter
  6. 6. Lost
  7. 7. Love Hurt Bleed
  8. 8. A Shadow Falls On Me
  9. 9. Where I Can Never Be
  10. 10. We're The Unforgiven
  11. 11. Who Are You
  12. 12. My Last Day

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4 Kommentare mit 3 Antworten

  • Vor 10 Jahren

    :kiss: meine gebete auf eine rezi vom anwalt wurden erhört :D :D das freut mich sehr. ich werde ein ohr riskieren. aber es ist fast etwas befremdlich, wie sehr numan diesen L.ktro-rockern der 90ies, allen voran reznor, hinten reinkriecht :suspect: aber ich mag den "neueren sound"

    • Vor 10 Jahren

      dank dir, altes monster, habe mich in der tat bemüht, zumindest nicht komplett zu versagen :) von "reinkriechen" würde ich soundmäßig jedoch nicht sprechen. das ist musikhistorisch eigentlich andersrum geklärt. keine nin ohne godfather gary. nicht umgekehrt. reznor gibt (neben bauhaus "flat field") numan als eine hauptinspirationsquelle für nin an. dass gn sich ein stück des kuchens zurückholt, für den er den teig machte, finde ich absolut legitim. das kriegt er - sind wir ehrlich - besser hin als bowie damals mit earthling, nin-duo-gigs und co...

  • Vor 10 Jahren

    dank dir, altes monster, habe mich in der tat bemüht, zumindest nicht komplett zu versagen :) von "reinkriechen" würde ich soundmäßig jedoch nicht sprechen. das ist musikhistorisch eigentlich andersrum geklärt. keine nin ohne godfather gary. nicht umgekehrt. reznor gibt (neben bauhaus "flat field") numan als eine hauptinspirationsquelle für nin an. dass gn sich ein stück des kuchens zurückholt, für den er den teig machte, finde ich absolut legitim. das kriegt er - sind wir ehrlich - besser hin als bowie damals mit earthling, nin-duo-gigs und co...

  • Vor 10 Jahren

    Vielen Dank erstmal @anwalt für den Hinweis – der Künstler (und Pionier des Elektropop), dies muss ich zu meiner Schande gestehen, war mir bis dato völlig unbekannt. Das Album gefällt, reisst mich jetzt aber nicht vom Hocker. Dass hier die Wurzeln im 80er Synthie-Pop liegen, blitzt an manchen Stellen durch. Der Künstler befindet sich somit in guter Gesellschaft von DM oder Mesh. Interessanter und vielseitiger Gesang, der Sound war mir teilweise zu pompös. Gibt es die Bezeichnung Bombast-Pop? Zwischendrin gibt es aber Auflockerung mit Industrial-/Crossover-Anklängen oder bei „Who Are You“ stampft der EBM durch. Für mich der beste Song auf dem Album ist „Lost“, da wird der Sound minimalistisch und überwiegend durch den Gesang getragen. Hat mich an einen Song von Kid Loco erinnert. Ich werde mal sukzessiv in die älteren Albem hereinhören, bin jetzt neugierig geworden.

  • Vor 8 Jahren

    Mein Gott, dass ich nochmal ins Schwärmen komme, nach Jahrzehnten intensiven Musik-Entdeckens, hätte ich nicht gedacht. Ich hörte Gary Human dass erste Mal 1994 mit seinem "Cars", dass mich total weggeblasen hatte. Über Jahre aus den Augen verloren und Dank Spotify wieder entdeckt und nun das 2013er Album gehört, nein "verdaut", Mann, lange her, dass es mich mal wieder so gepackt hat. Ich stimme RaoulDuke 100% zu, "Lost" ist der absolute Höhepunkt. Das Album ist homogen und trifft fast mit jedem Track meinen Nerv. Schwärmerisch verzweifelt - so hängt es bei fest.
    Nun habe ich was für lange Autobahnfahrten für den dunklen Herbst.