laut.de-Kritik
Poesie und Politik, Schmerz, Bitternis und Zärtlichkeit.
Review von Dani Fromm"Alles, das wir tun, tun wir deinetwegen", erweist Public Enemys Chuck D seinem Kollegen die letzte Ehre. Kurz zuvor, am 27. Mai 2011, erlag Gil Scott-Heron, gerade 62-jährig, den Folgen einer Lungenentzündung. Die Welt trauert um den "schwarzen Bob Dylan", um den "Godfather of Rap": Titel, mit denen Scott-Heron zu seinen Lebzeiten herzlich wenig anfangen konnte.
Gerade mit Rap-Musikern ging er nicht gerade zimperlich ins Gericht: "Die müssten alle mal ein bisschen was über Musik lernen", befand er einst. "Worte über irgendwelche Musik zu legen und dieselben Worte in die Musik überzublenden, dazwischen besteht ein riesiger Unterschied. Viel Humor existiert da auch nicht. Sie benutzen massig Slang und Umgangssprache, geben aber nichts von ihrem Inneren preis. Statt dessen kriegst du nur einen Haufen Posen."
Diese Meinung ändert allerdings wenig daran, dass Gil Scott-Heron mit "The Revolution Will Not Be Televised", seiner später zu "Proto-Rap" deklarierten Watsche an die US-Regierung und (vor allem) die Massenmedien, die Vorlage für alles lieferte, das Hip Hop lange Zeit darstellen sollte. "Er hat alles im Hip Hop beeinflusst", packt es Eminem in klare Worte, und nicht nur da: Schriftsteller, Bürgerrechtler und Musiker, vom Indierocker bis zum Rapper, beziehen sich auf Gil Scott-Heron.
Sein Schaffen steht in der Tradition von Soul, Funk und vor allem Jazz, die erzählerische Komponente schlägt den Bogen vom Blues bis zum Rap späterer Tage. "Dance und Hip Hop haben sich so viel von diesem Album ausgeborgt (oder gestohlen)", schreibt Nick Dedina über "Pieces Of A Man". "Man vergisst darüber leicht, wie originell Scott-Herons Mix aus Soul, Jazz und den Vorläufern von Rap einst war."
Der eigentliche Skandal steckt allerdings in dem Umstand, dass Gil Scott-Heron erst viel zu spät den Respekt erntete, den er längst verdient hatte. "Pieces Of A Man", sein 1971 veröffentlichtes zweites Album, zählt zwar zu den Top-Sellern im Katalog seines (damaligen) Labels Flying Dutchman Records. In absoluten Zahlen bedeutet das allerdings quasi gar nichts. Die Veröffentlichung der am 19. und 20. April 1971 in den New Yorker RCA Studios aufgenommenen Platte ging seinerzeit dermaßen unbeachtet über die Bühne, dass sich heute noch nicht einmal mehr ein genaues Erscheinungsdatum rekonstruieren lässt.
Erst zwei Jahre später, zu einem Zeitpunkt, da Scott-Heron und sein musikalischer Kollaborateur Brian Jackson Flying Dutchman bereits den Rücken gekehrt haben, ziehen die Verkäufe etwas an. Am 2. Juni 1973 steigt "Pieces Of A Man" in die Top Jazz Album Charts ein und hält sich sechs Wochen in dieser Nischen-Hitliste. Beste Platzierung in dieser Zeit: ein schäbiger Platz 25. Ein echtes Armutszeugnis, bedenkt man, mit welchem Meisterwerk man es hier zu tun bekommt und welche Kreise es gezogen hat.
Immerhin: Rückblickend fuhr "Pieces Of A Man" doch noch ziemlich viele Lorbeeren ein, was zu großen Teilen an der Eröffnungsnummer liegt: "The Revolution Will Not Be Televised" gilt vielen als einer der besten Protestsongs aller Zeiten. Schon wieder ein Schuh, den sich Gil Scott-Heron nicht wirklich anziehen will:
"Ich habe früh gelernt, dass das Publikum Songs so versteht, wie es sie verstehen will, nicht so, wie du dir das vielleicht gedacht hast", zitiert ihn der Telegraph. "'The Revolution Will Not Be Televised', das war Satire. Die Leute kamen und sprachen von der ach so militanten Botschaft. Aber wie militant kannst du denn bitte sein, wenn du sagst: 'The revolution will not make you look five pounds thinner'?"
Zweierlei kann der Urheber aber nicht kleinreden: Satire hin oder her, die Sprengkraft seiner Worte, ihre Kraft und die (kaum) verborgene harsche Medienkritik springen einen auch fast 50 Jahre nach ihrer Formulierung noch an, obwohl inzwischen viele der Anspielungen auf damals aktuelle politische Ereignisse, Literatur, Popkultur, Sitcoms und Werbeslogans ohne Erläuterung kaum noch zu erkennen und verstehen sind. Noch nicht einmal das stete Ausschlachten und das ewige Aus-dem-Kontext-Reißen einzelner Zeilen oder des Titels raubten der in den Worten enthaltenen Gewalt und dem Zorn ihre Wucht. Diese Nummer scheint wirklich und warhaftig un-kaperbar.
Außerdem gibt die auf "Pieces Of A Man" enthaltene Version (in einer Spoken Word-Fassung war "The Revolution Will Not Be Televised" bereits auf dem live aufgenommenen Vorgängeralbum "Small Talk At 125th And Lenox" enthalten) mit ihrem reduzierten Drumbeat und den charakteristischen Basslines lange, lange Zeit vor, wie Hip Hop zu klingen hat. Wie bezeugen die Geburtsstunde von Rap, Jahre, bevor von "Rap" überhaupt jemand spricht.
Gil Scott-Heron hat "The Revolution Will Not Be Televised", das vermutlich mit Abstand bekannteste Stück aus seinem Katalog, nicht als Single veröffentlicht. Es erschien 1973, versteckt auf der B-Seite von "Home Is Where The Hatred Is", einer ebenfalls ganz grandiosen Nummer, die - Schande über die ignorante Welt! - noch nicht einmal an den hinteren Rängen der Charts schnuppern durfte und heute vollkommen zu Unrecht im Schatten ihrer Rückseite steht.
Esther Phillips coverte diesen Song später, zur Abwechslung einmal zu Scott-Herons Zufriedenheit: "Pee Wee Ellis von der James Brown Band hat sich um das Arrangement gekümmert. Esther Phillips ist eine sehr, sehr gute Sängerin. Sie sagte, ich wisse zu viel über Junkies, um nicht selbst einer zu sein. Pee Wee darauf: 'Nee, der ist kein Junkie. Ich hab' ihn im Park Basketball spielen sehen.' Sie sagte, sie werde es beweisen, sie selbst sei nämlich ein Junkie. Ich bin also bei CTI Records aufgekreuzt, um sie zu treffen, in Shorts, und sie nur: 'Scheiße. Ich habe verloren.'"
Vielleicht hatte Miss Phillips aber auch einfach nur eine prophetische Gabe. Mitte, Ende der 80er Jahre, zu einer Zeit, in der die meisten seiner Kollegen ihre Suchtprobleme entweder bereits in den Griff bekommen haben (oder ihnen erlegen sind), gerät Gil Scott-Heron doch noch in die Klauen harter Drogen. Über Kokain kommt er zum Crack und landet wiederholt wegen Drogenbesitzes und Verstößen gegen seine Bewährungsauflagen hinter Gittern.
Besonders tragisch: Der Mann, der in "The Bottle" messerscharf das Elend Alkoholabhängiger beschrieb und in "Angel Dust" 1978 die Jugend eindringlich vor ebendieser Droge warnte, schien blind für seine eigene Situation. Das Angebot, eine Haftstrafe zu umgehen, wenn er sich nur in Therapie begebe, schlug er aus (respektive erschien er zur entsprechenden Anhörung vor Gericht gar nicht erst). Interviews aus seiner Drogenzeit hinterlassen den Eindruck eines absolut uneinsichtigen Sturkopfs, der den Abwärtsstrudel, in dem er steckt, partout nicht wahrhaben will.
1971 ist das jedoch noch hässliche Zukunftsmusik. Zu diesem Zeitpunkt hat Gil Scott-Heron seine Sinne noch beisammen und nutzt sie für eine Bestandsaufnahme einer Gesellschaft mit unsicheren Zukunftsaussichten. Entsprechend perspektivlos, sehen deren Mitglieder ihr Heil - wenn überhaupt - höchstens noch darin, einen Umsturz anzuzetteln. Frustrierend, wenn man feststellen muss: Ein knappes halbes Jahrhundert später hat sich nichts geändert.
"Pieces Of A Man" gehört in eine Reihe mit den großen Soulalben der frühen 70er, zu Stevie Wonders "Innervisions", zwischen "What's Going On" von Marvin Gaye und "Curtis" von Curtis Mayfield. Und auch wieder nicht, denn Gil Scott-Heron taugt denkbar schlecht zum charmanten Soul-Man. Die entspannte Coolness, die seine Stücke versprühen, birgt das Potenzial, in jeder Sekunde in eisige Kälte umzukippen. Aus dieser Distanz lässt sich manches klarer, auf jeden Fall aber das Gesamtbild genauer erfassen. Dennoch beweist Scott-Heron schier unerschöpfliche Empathiefähigkeit.
Bestes Beispiel liefert der Titeltrack: Zu "Pieces Of A Man" inspirierte Gil Scott-Heron ein Fall, den er in seiner Nachbarschaft beobachtete: Nachdem ein Mann seinen Job verlor, geriet sein komplettes Leben aus den Fugen. Scott-Heron schildert das Elend aus der Perspektive des Sohnes des Protagonisten, der mit ansehen muss, wie von seinem einst stolzen Vater nur noch Bruchstücke übrigbleiben. In seinem Zeilen liegt so viel Mitgefühl, es hätte die zum Heulen schöne Instrumentierung gar nicht gebraucht, um einem die Tränen in die Augen zu treiben.
Natürlich geht es in dem Song nicht nur um eine (schwarze) Familie. Es schwingt die komplette Geschichte der Sklaverei mit, die Geschichte der systematischen Benachteiligung, Unterdrückung und Ausgrenzung von Schwarzen, die Geschichte des Rassismus', in den USA und anderswo. Die Saat, die Gil Scott-Herons Großmutter legte, ist voll aufgegangen.
Bei der Oma wuchs Gil Scott-Heron auf, nachdem die Ehe der Eltern in die Brüche gegangen war. Bei ihr in Tennessee machte er hautnah erste Erfahrungen mit Rassismus. Die Großmutter, aktive Bürgerrechtlerin, zeigte ihm aber auch, dass man Unrecht nicht unwidersprochen und unkommentiert hinnehmen muss.
Nach ihrem Tod kehrt Gil in die Obhut seiner Mutter, die inzwischen in der Bronx lebt, zurück. Sein Talent, mit Worten umzugehen, bringt ihm ein Stipendium an der Fieldston School in New York ein. Von hier aus führt ihn sein Weg an die Lincoln University in Pennsylvania, wo er auf Brian Jackson trifft, mit dem er bald gemeinsam an musikalischen Ideen bastelt.
Beider Zusammenarbeit nimmt auf "Pieces Of A Man" erstmals greifbare Formen an. Für die Produktion zeichnet Bob Thiele verantwortlich, der bereits mit Jazz-Übergrößen wie Louis Armstrong und John Coltrane gearbeitet hatte, unter anderem produzierte er letzterem den Meilenstein "A Love Supreme". Thiele ist zu verdanken, dass Scott-Heron überhaupt unter die aufnehmenden Künstler ging: Er brachte schon fürs live eingespielte Vorgängeralbum den Stein ins Rollen.
"Pieces Of A Man", eigentlich der zweite Longplayer, stellt zugleich Gil Scott-Herons Studiodebüt dar. Obwohl das Album im Vergleich zu "Small Talk At 125th And Lenox" deutlich stärker auf konventionelle Songstrukturen setzt, bewahrt es den Spoken Word-Charakter der Lyrics. Scott-Herons Vocals wirken, wenngleich eingebettet in die makellose Arbeit seiner Musiker, oftmals so präsent, als trage er seine Zeilen a capella vor.
Das spricht keineswegs gegen, sondern doppelt und dreifach für die Qualität aller Beteiligten, jeder einzelne ein Virtuose an seinem Instrument: Ron Carter am Bass, Pretty Purdie an den Drums, Hubert Laws an der Flöte, keiner hat nötig, sich in den Vordergrund zu spielen, und ohne Brian Jackson am Piano geht sowieso nichts. Die ersten vier Stücke verfallste Gil Scott-Heron alleine, bei allen weiteren handelt es sich um Co-Produktionen des musikalischen Zweiergespanns, eine gelungener als die nächste.
Der einzige, wenn man so will, Ausfall geht auf Scott-Herons eigene Kappe. "Save The Children" klingt so melodisch, so fluffig, so zuckrig, so voller Flöten-Düdelüüü, und das direkt im Anschluss an "The Revolution Will Not Be Televised", als wolle sich jemand für die drastischen, unkonventionellen - ja! - militanten Worte des Eröffnungstracks entschuldigen, indem er mit aller Gewalt in die Gegenrichtung rudert. Hä?
Ich erinnere mich - so dunkel, dass ich nicht mehr weiß, wo - gelesen zu haben, es helfe, sich "Pieces Of A Man" als wahrhaft großes Album vorzustellen, dem man den Überhit als Single und eben auch deren unvermeidliche, überflüssige B-Seite vorangestellt hat. (Bloß dass in diesem Fall, wie bereits erwähnt, dieser Überhit selbst eine B-Seite war.)
Es handle sich dabei um den einzigen politischen Track auf dem Album, stapelt Gil Scott-Heron tief. "Sehr wenige Leute haben 'Save The Children' oder 'Lady Day And John Coltrane' oder 'I Think I'll Call It Monung' gehört. Sie haben etwas verpasst, es ist ja nur eins von elf Stücken." Überhaupt halte er sich nicht für besonders politisch, sagte er 2001 der Village Voice: "Ich habe mich selbst nie als etwas anderes als einen Bürger gesehen. Ich nehm' das trotzdem hin. Irgendwie ist ja jeder politisch, der Steuern bezahlt, weil er damit die politische Maschinerie unterstützt."
Politisch oder nicht, wer "Pieces Of A Man" nur wegen "The Revolution Will Not Be Televised" kauft, hat sein Geld bestens angelegt. Er bekommt obendrein den Beweis, dass in Gil Scott-Heron nicht nur ein Spoken Word-Künstler steckt, sondern darüber hinaus ein begnadeter Sänger. "Pieces Of A Man" bietet Poesie und Politik, Jazz, Funk, Soul, Blues und R'n'B, Schmerz, Bitternis und Zärtlichkeit, und alles im Überfluss.
In "Lady Day und John Coltrane" etwa steckt - neben der offensichtlichen Hommage an die Jazz-Größen Billie Holiday und John Coltrane - eine Liebeserklärung an die heilende Kraft der Musik, die oft das einzige ist, das dich noch auch der Scheiße zieht. "Natürlich!" bestätigt Gil Scott-Heron das Jahre später im Vorfeld seiner Comeback-Platte mit dem selbstironischen, weil glatt gelogenen Titel "I'm New Here" in einem Interview. "Musik bringt mich dazu, mich gut zu fühlen wie nichts sonst. Sie führt mich zu dem zurück, der ich wirklich bin."
Zurück zur Musik brachte Gil Scott-Heron Richard Russell von XL Recordings. Er schrieb dem damals (wieder einmal) auf Rikers Island einsitzenden Musiker Briefe, wild entschlossen, mit ihm nach langer Abstinenz erneut ein Album aufzunehmen: ein phänomenal geglücktes Unterfangen. Doch auch das bescherte Gil Scott-Heron nicht mehr den großen Durchbruch. Auf den war er wohl auch nicht aus: "In der Vergangenheit kamen ständig Leute mit Songs zu mir, von denen sie mir sagten, das würden Hits werden. Ich sagte ihnen immer: 'Gib das einem Bruder, der einen Hit will.'" Den Grammy für sein Lebenswerk erhielt er trotzdem. Posthum.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
3 Kommentare mit 2 Antworten
Absolut verdient und zu seiner Zeit völlig untergegangen. Auch absolut tolle Band hinter dem Rücken, die höllisch groovt. Für mich ebenso auf Augenhöhe mit Curtis Mayfield, Marvin Gaye und Stevie Wonder. "Winter In America" mit Brian Jackson ist auch prima.
Immens wichtige Platte, besonders wegen der Protesthymne "The Revolution Will Not Be Televised". Sprechgesang gab es bereits vorher (etwa Pigmeat Markhams "Here comes the Judge"), aber erst Gil Scott-Heron hat Rap zum Sprachrohr der schwarzen Bevölkerung gemacht, parallel zu DJ Kool Hercs Entdeckung des Turntablism. Sein Nachwirken kann man bis in den gegenwärtigen Conscious-Rap von Kendrick Lamar verfolgen.
Ein absolut verdienter und längst überfälliger Meilenstein!
Denn ganz gleich, ob man nun "Pieces Of A Man" oder eines seiner anderen Alben wertschätzt: Gil Scott-Heron spielte in Hochzeiten textlich und musikalisch, vor allem aber stimmlich weiter über dem Level hier bereits genannter Größen, wie Gaye, Mayfield oder Wonder.
Hätte er sich nur nicht ständig selbst im Weg gestanden ...
Was bleibt: Grandiose Musik - und die vielleicht zwei besten Konzerte (2001 + 2010/HH Fabrik) meines Lebens. Der Mann hatte (Zähne im Maul - oder auch nicht ...) eine Spiellaune, Präsenz und Intensität auf der Bühne, die mich bis heute fasziniert ...
Miss him!
Nana jetzt mal nicht übertreiben, über Marvin Gaye, Curtis Mayfield und Stevie Wonder? Muss und kann man eigentlich auch gar nicht vergleichen.
Das Album ist auf jeden Fall ein Meilenstein, wahrscheinlich auch sein bestes Album. "Winter in America" und "Bridges" mit Brian Jackson sind auch noch sehr zu empfehlen.
Ohne Übertreibung: stimmlich/musikalisch weit, sehr weit vor den oben genannten Künstlern - und inhaltlich sowieso um ein Vielfaches relevanter ...
Ein heute leider viel zu wenig beachteter bzw. viel zu früh vergessener Künstler!
Lasse ich nicht mit mir diskutieren!