laut.de-Kritik

Zwischen Dystopie und Melancholie.

Review von

Hand hoch: Wer hätte gedacht, dass die Schnapsidee einer vierköpfigen virtuellen Band 23 Jahre und acht Alben überdauern könnte? Was Damon Albarn und Zeichner Jamie Hewlett um die Jahrtausendwende mit den Gorillaz ersannen, ist extrem gut gealtert. Klar, dass Album Nummer acht dem bewährten Rezept treu bleibt: ein passendes, aber keinem Genre klar zuzuordnendes Soundbild, prominente Gäste verschiedenen Kalibers und eine geschlossene, in sich stimmige Themenwelt, die sich auch in den zugehörigen Musikvideos widerspiegelt.

Auf "Cracker Island" nimmt die Kult-Band ihren Status wörtlich: Das Album beschäftigt sich mit fanatischen Kults und mit unser Abhängigkeit von Social Media. So absurd es sich anfühlen mag, von einer virtuellen Band über kultische Bewegungen im Netz aufgeklärt zu werden, so wahnsinnig gut funktioniert dieses Konzept.

"Cracker Island" befindet sich dabei irgendwo im plötzlich gar nicht mehr so sonnigen Kalifornien, wo 2-D, Noodle, Russel Hobbs und Murdoc Niccals sich "The Last Cult" angeschlossen haben. Von dort aus strebt die Gruppe dem "kollektiven Aufstieg in eine neue Dimension entgegen", so zitiert zumindest die Album-Ankündigung Bassist Niccals. Generell scheint der sonst eher im Hintergrund stehende, düster dreinblickende Murdoc plötzlich ins Zentrum des Geschehens zu rücken und den Kult wesentlich zu steuern. Im Musikvideo zu "Skinny Ape" tritt er als Buddha-eskes Wesen auf, das über den Dingen schwebt. Auch steht er im Mittelpunkt des Albumcovers.

Das Konzept des "The Last Cult" haben Albarn und Team in jedem Fall bis ins kleinste Detail durchdacht. Das inkludiert auch eine eigene Landingpage, auf der sich Normalsterbliche der Bewegung anschließen können, und das obwohl, wie 2-D in einem Statement klarmachte, "the path to Cracker Island ain't easy to find 'cos it's underwater". Gut, dass Tame Impalas Kevin Parker auf "New Gold" direkt fragt: "I wonder if she knows that we're underwater, that's the way it goes in the city wonder." Wir sind also schon mittendrin.

Als wäre ein Kult nicht genug, trifft man auf dem Titelsong und Opener nicht nur Featuregast Thundercat, sondern direkt auch den konkurrierenden "Forever Cult". Der hypnotische Track zieht die Hörerschaft in den Sog des Eilands, so dass Thundercats wiederholte Frage "What world is this?" mehr als berechtigt erscheint. Eine Welt, in der müde Influencer ("The Tired Influencer") auf erwachsen gewordene, thailändische Prinzessinnen ("Baby Queen") treffen. Letztgenannter Track ist zugleich der seltsamste und wohl auch schwächste Part des Longplayers: Hier singt offenbar nicht 2-D, sondern Damon Albarn von einer Begegnung mit der damals 14-jährigen thailändischen Kronprinzessin, die ein Blur-Konzert besuchte und dort einen legendären Stagedive hinlegte. In einem Interview nannte der Sänger einen kürzlichen Traum, den er von der Prinzessin hatte, als Inspiration für den Song. [Falls ein*e laut.de-Leser*in herausfinden sollte, welche der zahlreichen thailändischen Prinzessinnen 1997 auf einem Blur-Konzert war, möge er oder sie mir Bescheid geben. Ich habe es auch nach meinem dem Songrelease folgenden intensiven Studium der thailändischen Königsfamilie nicht herausfinden können und möchte wirklich nicht noch einmal in diesem Rabbithole verschwinden müssen.]

Die Gorillaz wären nicht die Gorillaz, wenn dies die einzige Textreferenz wäre, in die man sich abgrundtief reinnerden könnte und die das Album zu einem wahren Spektakel für Song-Sezierende und Genius-Nutzer*innen machen. Doch auch für die Unterhaltung des weniger analytisch Musikhörenden ist gesorgt, sogar in Multilingual: "Tormenta" war zwar bereits als erster Song des Albums fertiggestellt, von einer Vorabauskopplung wurde jedoch abgesehen. Dabei gibt sich auf dem Song nicht nur der gefeierte Bad Bunny die Ehre, auch 2-D singt erstmalig auf Spanisch. Klar, dass ein virtueller Bandfrontmann auch diese Sprache fließend beherrscht.

Seine besonderen Stärken spielt der Longplayer aber dort aus, wo die Grenzen zwischen okkultem Inselleben und unserer Realität verwischen. Zum Beispiel, wenn es auf "Silent Running" mit Adeleye Omotayo heißt: "Machine assisted, I disappear to a dream, you don't want to hear, how I got caught up in nowhere again – it feels like I've been silent running, through the infinite pages, I've scrawled out, searching for a new world, that waits on the sunrise." In solchen Momenten spürt man die Taubheit, die stundenlanges Doomscrolling auf Social Media hinterlässt, förmlich am eigenen Leib.

Da "Cracker Island" irgendwo zwischen dystopisch und melancholisch umherdriftet, fügt es sich problemlos in die Diskografie der Band ein. So schaukelt es sich wie Treibgut an verschiedenen Genreinseln vorbei und kreiert den gewohnt zeitlosen Gorillaz-Sound. Die zehn Songs der LP klingen so, als hätten sie durchaus schon aus den Boxen des Opel Vectras eurer Eltern dröhnen können, überzeugen aber trotzdem mit durchgehender Freshness.

Vielleicht ist das am Ende der Kern der Gorillaz: Aller schwermütigen Themen, Düsternis und Komplexität ihrer Musik zum Trotz, holen ihre Songs so ziemlich alle Menschen ab. Wirklich hassen kann man diese Band nicht. Sie können sich als Comicfiguren nicht mit missglückten, öffentlichen Auftritten blamieren, dürfen sich ohne Gefahr, ihre alten Fans zu verschrecken, weiterentwickeln, denn sie entziehen sich den Regularien unserer (Popmusik-)Welt. Wird eine virtuelle Band am Ende die Spaltung der Gesellschaft überwinden? Spätestens wenn 2-D und Beck das Album auf "Possession Island" mit den Worten "We're all in this together 'til the end" schließen, möchte man es für möglich halten.

Trackliste

  1. 1. Cracker Island feat. Thundercat
  2. 2. Oil feat. Stevie Nicks
  3. 3. The Tired Influencer
  4. 4. Tarantula
  5. 5. Silent Running feat. Adeleye Omotayo
  6. 6. New Gold feat. Tame Impala and Bootie Brown
  7. 7. Baby Queen
  8. 8. Tormenta feat. Bad Bunny
  9. 9. Skinny Ape
  10. 10. Possession Island feat. Beck

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Gorillaz

Irgendwann im Jahr 1999 lungern Damon Albarn und Jamie Hewlett in ihrer Londoner WG herum und sind unzufrieden mit so ziemlich allem im Musikbiz. Dann …

11 Kommentare mit 25 Antworten

  • Vor einem Jahr

    "Wirklich hassen kann man diese Band nicht."

    Challenge accepted...

    Aber mal.ernsthaft: Ist "ganz okay" kein schlimmerer Zustand für Musik als "grauenhaft"? Das Ausbleiben einer Reaktion nicht vielleicht der beste Grund, es sein zu lassen? Damon Albarn braucht mMn. dringend mal ein Gegenüber, das ihm sagt, etwas sei noch nicht gut genug. Seit 15 Jahren spult er sein müdes Standardprogramm im Songwriting ab, ganz ohne starke Hooks oder packende Melodien... Er könnte so viel mehr!

    • Vor einem Jahr

      Als Smashing Pumpkins Fan im Jahr 2022 kann ich dir versichern, dass "ganz okay" ein wesentlich besserer Zustand ist als "Cyr" und "ATUM".

    • Vor einem Jahr

      Point taken... Und gleichzeitig würde ich beim dreißigsten Versuch, ein Bullet With Butterfly Wings oder 1969 zu imitieren, mehr Respekt vor dem dummen Lauch Corgan verlieren als wenn er solche Musikverbrechen wie die letzten beiden Platten begeht.

    • Vor einem Jahr

      Gibt aber auch Gegenbeispiele. Premo kann seit 30 Jahren denselben Beat produzieren und ich bin froh darüber. Und für die Fans von AC/DC oder den Peppers gilt wahrscheinlich dasselbe, auch wenn ich's hier nicht fühle.

    • Vor einem Jahr

      Gorillaz btw immer schon langweilig as fuck mMn.

    • Vor einem Jahr

      Peppers... Hmja. Weiß, was Du meinst - auch wenn sie halt schon immer experimentiert haben, und die Muse des Songwritings sie noch regelmäßiger mal abschmatzt.

      Glaube, bei Motörhead wars mir auch schnurz, daß sie 150mal denselben Song geschrieben hatten. Die Gorillaz hatten aber mal Catchiness auf ihren Fahnen stehen, schicke Hooks und Harmonien, oder eben wilde, bunte Weirdness (Plastic Beach). Alles danach war halt der absolute Durchschnitt. Kein Ohrwurm, und kein interessanter Ausreißer mehr in irgendeine Richtung.

    • Vor einem Jahr

      Da du da tiefer drin bist: Gibt es bei den Peppers Songs, bei denen man den Slap Bass gut herausarbeiten kann, um ihn zu zerschnibbeln und zu samplen?

    • Vor einem Jahr

      Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.

    • Vor einem Jahr

      "...Alles danach war halt der absolute Durchschnitt. Kein Ohrwurm, und kein interessanter Ausreißer mehr in irgendeine Richtung."
      Stimmt. Damals bei Plastic Beach hatte ich vorab Stylo gehört und mich auf das Album gefreut, war aber da schon relativ enttäuscht vom Rest der Songs... Danach kam nix in der Richtung mehr, hab dann aber auch nicht mehr alle Alben gehört und lass mich gern vom Gegenteil überzeugen.

    • Vor einem Jahr

      @Chris: Sorry, bin kein RHCP-Stan, eher Gelegenheitshörer. Finde vor allem Frusciante solo gut. Vielleicht fällt mir was ein, aber andere hier kennen sich bestimmt besser aus!

    • Vor einem Jahr

      Mit der "One Hot Minute" als Lieblingsalbum und der unumstößlichen Überzeugung, dass Fleas wichtigste Vermächtnisse am Bass sowieso außerhalb von RHCP stattgefunden haben, bin ich da wohl ebenfalls nicht erste Wahl, @Chris.

      Wenn es dir hier aber nicht vorrangig um kommerzielle Erfolgschancen durch hohen Wiedererkennungswert einer spezifischen Slap Line geht, sondern v.a. dass sie genuin slappt, dann würde ich dir für dein Unterfangen wohl eher blutjunge Incubus zu Zeiten, als sie noch unbedingt nach RHCP klingen wollten ("Fungus Amongus"; in Teilen: "S.C.I.E.N.C.E.") oder (IMHO insbesondere für die genrenahe Zweitverwurstung im HipHop geeignet) die ersten 3 Studioalben von Jamiroquai empfehlen.

    • Vor einem Jahr

      Danke! Ja, es geht mir nicht um Eingängigkeit. Also außer für mich selbst, da sollte sie schon genuin slappen :D

    • Vor einem Jahr

      Ich dachte Flea hätte das etabliert, daher die Frage. Gefährliches Halbwissen und so.

    • Vor einem Jahr

      @Chris also da wären "Don't forget me" und "My lovely man", die mir auf die Schnelle zum verwursten einfallen.

    • Vor einem Jahr

      "Ich dachte Flea hätte das etabliert, daher die Frage. Gefährliches Halbwissen und so."

      Das ist schon mehr Dreiviertelwissen statt bloß halb. Was Incubus auf "Fungus Amongus" machen ist praktisch nichts als der streberhafte Hofknicks vor den RHCP-Alben bis zur "Blood, Sex...", aber die hab ich als "nie so wirklich von Herzen"-Fan der Peppers insgesamt viel weniger gehört als alles ab der '92er Platte.

    • Vor einem Jahr

      @Chris:
      'On the double bass, the technique was developed by jazz bands in New Orleans in the early 1900s, and later spread to other genres, including western swing, rockabilly, and other offshoots of those styles. On the bass guitar, the technique is widely credited to Larry Graham, an electric bassist playing with Sly and the Family Stone in the late 1960s. The technique quickly spread to the funk and disco genres.

      Slapping is a technique also adopted by acoustic and electric fingerstyle guitarists. John Lennon is seen slapping his guitar in the first two measures of the song "Get Back" in Peter Jackson's documentary "The Beatles: Get Back".'

      https://en.wikipedia.org/wiki/Slapping_%28…

    • Vor einem Jahr

      Hörr Glörp wie immer der Streber unter den Erklärbären! :D

      Bin mir aber selbst als Genrefremder ziemlich sicher, dass die Sly & The Family Stone-Diskographie allein durch US-amerikanischen HipHop der letzten 40 Jahre schon bis in den letzten Sekundenbruchteil ausgeleuchtet und zur Sample-Gewinnung abgetragen wurde, hm?

      Als junger, aufstrebender und äußerst genrefremder Beat-Bastler und Sample-Sympathisant würde ich da tatsächlich eher bei vermeintlich weniger abgegrasten Zweite / Dritte Welle-Huldigern dieser ursprünglichen Funk- und Discogenres größeres Potenzial vermuten, dass es das ein oder andere genuin slappende UND so noch nie woanders eingesetzte Sample abschmeißt,

    • Vor einem Jahr

      Alloh! Ich hab nebenbei noch eine andere Frage an die Musikaffinierten: Was war zuerst da Can't Stop von den RHCP , oder: "Ich kenn den Bruder..." von Cucumber Men oder Damaged von Mother Tongue oder gab es da was noch früherer?: https://www.youtube.com/watch?v=FRkOWqMVDQ0
      https://www.youtube.com/watch?v=MC231C5G_AI
      https://www.youtube.com/watch?v=8DyziWtkfBw

    • Vor einem Jahr

      Ersteres ist eher Tim C Style, finde ich. Das zweite ist Zufall, aber schon witzig.

    • Vor einem Jahr

      @gleep:

      Danke. Mir geht's für's Sample allerdings schon um diesen speziellen und vordergründigen 90er Rockmusik-Bass-Sound. Trotzdem sehr interessant. Hätte die Anfänge eher im Funk vermutet.

  • Vor einem Jahr

    Och, Melodiebögen gibt es auch diesem Album doch ganz schöne, gerade bei den letzten beiden Stücken oder in „Silent Running“.

    Das ist das erste Album der Gorillaz seit „Plastic Beach“, das ich von Anfang bis Ende durchgehört habe. In den letzten 13 Jahren haben mich immer nur einzelne Songs von ihnen interessiert, und gefühlt hatten sie zuletzt auch eher Compilations als stimmige Gesamtwerk veröffentlicht.
    Leider ist das hier jetzt mit 10 Songs ziemlich kurz geraten.

    Ohne das Artwork und die Videos hätte Damon Albarn es auch als Soloalbum veröffentlichen können. Hat schon eine hohe Präsenz von ihm, mit ein paar Zugeständnissen an die jüngere Generation, Stichwort Bad-Bunny-Track.

  • Vor einem Jahr

    das ist doch nichts halbes und nichts ganzes...