laut.de-Kritik
Eine elektronisch-postpunkige Lehrstunde in Songwriting 2.0.
Review von Anne Nußbaum"These forms exist. They simply have fallen into disrepair", murmelt es blechern aus dem Off. Ganz harmlos beginnt Grasscuts Debüt: Klaviergeplänkel, spacige Geräusche, wie sie ein ausrangiertes Raumschiff Enterprise von sich geben würde, und Gesang, der entfernt an Sam Genders erinnert.
Doch Grasscut wissen die Stimmung zu brechen: Der Refrain überfällt schlagartig das zarte Intro. Es dröhnt, rauscht, misstönt im Ohr. Laute Pianoakkorde, Computergefrickel und ein massives Schlagzeug kleiden den Opener "High Down" in ein fast kakophonisches Gewand.
"1 Inch / 1/2 Mile" ist eröffnet. Andrew Phillips und Marcus O'Dair verorten ihren Sound zwischen verschrobener Elektronik und abstrakter Indie-Avantgarde. Zusammengeschmolzen aus Fundstücken von der Straße, Geplapper, Geräuschen, aus alten Vinylschätzen, Schnipseln privater Gespräche und Eigenkompositionen geben sie mit ihrer Platte eine Lehrstunde in Songwriting 2.0, die ihresgleichen sucht.
Und wir sind aufmerksame Schüler. Wenn Grasscut vielschichtig Samples ineinandermixen und sich an Synthie und Computer die Finger wund drehen, spitzen wir gespannt die Ohren. An die alten Zeiten Tunngs erinnert nicht nur der mehrstimmig übereinander gelegte Gesang. Auch die Freude am Spiel mit Soundbruchstücken und knarzigen Zitaten zelebrieren Grasscut so detailverliebt wie einst ihre Landsmänner auf "Comments Of The Inner Chorus".
Verschwurbelte Orgel, gecuttete Versatzstücke, repetitive Melodiemuster und nicht zuletzt Phillips Organ kommen auf "Meltwater" einem Benjamin Gibbard nah. Mit mysteriös metallischem Quietschen beginnt "The Tin Man". Eine Stimme knistert aus der Ferne, gemächlich gesellen sich Cello und ein unsagbar trauriges Piano hinzu.
Dann dreht der Wind: Mit Einsatz des verzerrten Gesangs, bei dem Grasscut tief in die Plattenkiste greifen und John McCormacks "The Little Silver Ring" von 1927 herausfischen, kommt ein Hip Hop-artiger Beat ins Spiel. Plötzlich schlägt der Track wieder einen Haken: Fast episch bäumt sich das Schlagzeug auf und stürzt gewaltig auf Streicher und Klavier ein.
Spielerisch bedienen sich Grasscut aus dem Katalog digitaler wie analoger Elemente. Ihre Verweise auf Noise und Krautrock schichten sie dabei über Partituren aus der Folk-Ecke und lärmen ein paar Takte später auf der Grenze zum Postpunk.
Klänge aus einem verqueren Leierkasten prallen auf "Muppet" gegen eine Wand aus Piepsen, Scratchen und gebrochene Rhythmen. Mit vor- und rückgespulten Stimmensamples und durch den Tiefpass-Filter gefeuertem Synthiegeschwurbel steigert sich der Track ins Unermessliche. Dissonanzen und gegenläufige Melodien kämpfen auf Songlänge gegen- und miteinander, bis sie sich in einem orgiastischen Getöse auflösen. Am Ende bleiben von dem Monument bloß noch R2D2-Geplapper und sakrale Mönchschöre übrig.
Mal widmen sich Grasscut klassischer Instrumentation mit Streicherparts, Vibraphon und lieblicher "Peter Und Der Wolf"-Oboe ("The Door In The Wall"), mal bäumen sie pumpenden Drumcomputer und abgehackte Rhythmen zu einer kratzenden Konfusion auf - oder vereinen schlichtweg alles auf einem Track ("Old Machines").
Das macht das Album nicht nur musikalisch zu einem komplexen Werk. Der Dualismus im Sound von Akustik und Elektronik schlägt sich in den Themen nieder: Natur trifft auf Industrie, Technisierung und moderner Urbanismus reiben sich an der Erhabenheit natürlicher Landschaften.
Sowohl Textstrukturen als auch Songschemata bleiben schwammig. Genau das macht den Reiz aus: Experimentell und doch genau durchdacht fügt das Duo schwer fassbare Soundcollagen zusammen, die zierlich im Raum schweben, um dann mit voller Beatwucht wie ein zorniges Kind auf den Boden zu stampfen.
Wem die Platte gefällt, dem seien auch die Remixe ans Herz gelegt: Bibio nehmen sich den Track "The Door In The Wall" vor und drehen daraus eine vogelzwitschrige, fast schon im Sirtaki-Beat stiefelnde Folklore-Nummer. Nathan Fake verpasst "Muppet" dagegen eine völlig andere Visage: Er dreht den Track durch seine unverkennbare Beatkurbel und schickt ihn mit technoider Facelifting-Reduzierung und Vocal-Entledigung straight in den Club.
2 Kommentare
Hammeralbum!!
Großes Album, und erst so wenig Kommentare ?