laut.de-Kritik

Sprachlos in der dunklen Schweiz.

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Bern ist ein hübsches, calvinistisches Nest in der Deutschschweiz. Wortkarg und eigenbrötlerisch sind die Menschen, eine Stadt der Regierungs- und Nichtregierungsbeamten an der Aare. Gäbe es diesen Nebenfluss des Rheins nicht, so siechte man in heißen Alpensommern dort stumm dahin. Weil er aber existiert, kann man sich in seinem kristallklaren Wasser von der einen Stadtseite zur anderen bequem treiben lassen – ein kostenloser Massenspaß in einem sehr teuren Land. Erträgliche Bars zu suchen, die nicht aussehen wie 'Ikea-Deluxe', wo vielleicht sogar ein paar Personen am Tresen kommunizieren, um sich dann zu sechs Franken ein schales Quöllfrisch zwischen die Kiemen quetschen zu können, ist eine frustrierende Angelegenheit. Selbst für die Eidgenossenschaft ist Bern ein Sonderfall der urbanen Einöde, bereits in Luzern lachen die Einheimischen wieder ab und zu.

Martin Eicher kommt aus Münchenbuchsee, einem Kaff nördlich von Bern. Grauzone gründet er Ende 1979 zusammen mit Marco Repetto am Schlagzeug und Christian Trüssel alias GT am Bass. Zu den raren Live-Auftritten, bekannt sind weniger als zehn, gesellte sich unter anderem sein Bruder Stephan Eicher. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Mann bis heute nur Connaisseuren bekannt, in Frankreich und der Schweiz verkauften sich seine bislang 15 regulären Studioalben seit jeher gut. Ähnlich verhält es sich mit dem Erfolg von "Grauzone". Während die Band bis auf ihren größten Hit "Eisbär" im Mainstream weitgehend vergessen ist, tanzen tausende Gruftis bis heute zu "Wütendes Glas" oder "Kälte Kriecht" – in der dunklen Schweiz stieg die 2021er Neuauflage des Debütalbums auf Platz 31 der Charts. Und das nach 40 Jahren.

"Grauzone" von Grauzone wird 1981 veröffentlicht und entsteht größtenteils in den Sunrise Studios von Kirchberg nahe St. Gallen. Die Atmosphäre der Songs dominiert durchweg das Thema Einsamkeit in der allerersten aller Welten. Gut fasst es der Kommentar von Lurker Grand, veröffentlicht auf der aktuellen Plattenversion von WRWTFWW Records, zusammen: "Grauzone lives in an imaginary place. It's the most beautiful and wealthiest in the world, with concrete consumption being the highest per capita. From a great height, this country looks like a sanitized park. The walkways are lines with bench seats and the roads with the seats of banks."

Sprachlos und kalt also beginnt das Album mit "Film 2", einem Tanzbodenfüller allererster Güteklasse. So hart mit der Electronic Body Music gebärdet sich damals höchstens die Deutsch Amerikanische Freundschaft. Zu den sterilen elektronischen Loops mischt man, sehr organisch, Schnalz- und Zischgeräusche. Klingt wie ein sehr aggressiver Dub, klingt heute immer noch großartig.

Weiter geht es mit "Schlachtet!", einem zynischen Lied über die Gesundung der Welt und wider die allgemeine Sprachlosigkeit der Saturierten: "Ich steh hier und du stehst dort und zwischen uns gibt's kein Wort!" Musikalisch orientiert man sich an The Cure, klingt allerdings schon nach "Pornography", das erst 1982 erscheint. Besonders schön fügen sich wieder die aggressiven Industrial-Loops ins Klangbild ein, GT am Bass klingt wie Peter Hook.

"Hinter den Bergen" schlägt akustisch in eine ganz andere Kerbe, hier mag man zum ersten Mal 'Neue Deutsche Welle' rufen. Alles Synthesizer hier, keine Gitarren, keine Bassgitarren. Ein knochentrockener Drumcomputer, wahrscheinlich ein Boss Dr. Rhythm, stampft durch den Song, wieder ergänzt durch höchst seltsame Samples aus der F+F Schule für Kunst und Design Zürich. Beteiligt, vor allem textlich, waren Klaudia Schifferle und Angela Schleizer von der legendären Frauenkombo Kleenex/Liliput. Was Herr Eicher da singt, ist aber außer "Hinter den Bergen, weit hinter den Bergen" schlecht auszumachten. Irgendwas Schlaues mit Eva Braun, Queen Elizabeth und Margaret Thatcher.

"Maikäfer Flieg" ist der erste wirklich langsame Song, nachdem zuvor wirklich alles durchgängig tanzbar war. Der Fokus liegt hier erneut auf perkussiven Lärmloops, könnte so auch auf "Kollaps" zu finden sein, dem ersten Einstürzende Neubauten-Album. Textlich wird das gleichnamige Volkslied vom Kamikazeinsekt verwurstelt: "Der Vater ist im Krieg, Pommerland ist abgebrannt". Das anschließende "Marmelade und Himbeereis" sorgt für ein sanftes Erwachen aus diesem Albtraum, an dieser Stelle muss auch die Kuration, also die Anordnung des Liedmaterials gelobt werden. "Deine Augen so blau wie das Meer, du sagst, ich lieb' dich sehr. Romantik am weißen Strand, unser Blut tropft in den Sand", schunkelt es naiv-pathetisch dahin. Einfache Gitarrenarpeggios, einfacher Basslauf, im Hintegrund Wellenrauschen und italienisches Geschmachte, zum Spaß zum Ende ein Bruch: "Wir sind alle prostituiert!" Wenige Lieder kann man mit gutem Gewissen nach mehreren Quöllfrisch besser brüllen.

Es folgt der bereits erwähnte Dancefloor-Banger namens "Wütendes Glas", wobei die spätere Maxiversion von 1982 noch um einiges mehr reinhaut als die Albumversion. Auf der ebenfalls bereits erwähnten Reissue ist sie enthalten, etwas schneller, noch aggressiver, ohne Gitarrengeklimper. Highlight ist die mächtige Synthie-Bassline, dazu elegische Lyrics, die mit ihrem Themenfeld Körper, Kälte und Hedonismus endgültig bei DAF ankommen: "Verkrampfte Hände schlagen an die Wand, tanzende Körper verlieren den Verstand!" Laut Lurker Grand entstand die Idee zu "Wütendes Glas" nach Auftritten in der immer noch existierenden Berner Reitschule, bis heute ein Sammelpunkt der linken Szene, damals ein Epizentrum der Schweizer Jugendunruhen.

"Kälte Kriecht", Rille sieben, kann ebenso laut aufgedreht werden, ist thematisch und atmosphärisch aber noch deutlich geradliniger als "Wütendes Glas", wenn man so will, die Gothic-Version davon. "Kunstgewerbe" ist ein kurzer Skit, ein Übergang zu "Der Weg Zu Zweit", das wieder mehr an "Hinter den Bergen" erinnert. Ein einfacher Text, fast schon schlagerhaft und immer wieder, fast mantrisch: "Der Weg zu zweit ist halb so weit." Besonders Liebeslieder können Grauzone gut, da muss man nur halb zuhören, man kann beim Denken tanzen.

Eine letzte Klangcollage namens "In Der Nacht" verabschiedet den Hörer nach knapp 33 Minuten. Viel zu schnell war alles vorbei, auch für die Band Grauzone, die nur zweieinhalb Jahre existierte. Ihr einziges Album "Grauzone" ist schon in seiner Originalform bis heute ein phänomenales, ein zeitloses Werk, vielleicht das beste, das es an deutschsprachigem Cold Wave jemals gab. Besser lebt es sich allerdings mit dem Appendix der neuen Edition oder den "Sunrise Tapes", weil man auf "Eisbär", "Ich Lieb' Sie" und "Träume Mit Mir" auf keinen Fall verzichten kann.

Diese Musik entstand in den heißesten Sommern der sprachlosen, reichen Schweiz. Sie war hinsichtlich ihrer Atmosphäre und Thematik nur dort möglich. Und sie war hinsichtlich der technischen Angebote für wenige geniale Dilettanten nur dort möglich. Wer einmal unvermeidlich eine Reise nach Bern machen muss, sollte sich zuvor und währenddessen permanent das aufgenommene Gesamtwerk der besten Band des Kantons und dazu noch "Live At Gaskessel" reinziehen. Dann hält man es vielleicht aus.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Film 2
  2. 2. Schlachtet!
  3. 3. Hinter Den Bergen
  4. 4. Maikäfer Flieg
  5. 5. Marmelade und Himbeereis
  6. 6. Wütendes Glas
  7. 7. Kälte Kriecht
  8. 8. Kunstgewerbe
  9. 9. Der Weg Zu Zweit
  10. 10. In Der Nacht

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LAUT.DE-PORTRÄT Grauzone

Ende 1979 gründet Sänger und Gitarrist Martin Eicher zusammen mit Schlagzeuger Marco Repetto und Christian Trüssel alias GT am Bass die Band Grauzone.

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