laut.de-Kritik
Er hat die Welt geprägt und nutzte dafür die Musik.
Review von Philipp KauseHarry Belafonte wusste eigentlich nicht, dass er eines Tages mal Sänger werden würde und sogar einer der erfolgreichsten des Planeten. Mutmaßlich plante er auch nicht, zu einem der einflussreichsten Menschenrechts-Aktivisten aufzusteigen. Sein Radius ist riesig, hunderte Musiker*innen, an die man in dem Zusammenhang nie denken würde, sind unmittelbar von Belafonte beeinflusst, zum Beispiel Nana Mouskouri, die er entdeckte. Barack Obamas Papa verdankt ihm ein Stipendium und den Aufstieg ins akademische Milieu, ohne den es wohl auch kein Jurastudium für den Sohn, kein Praktikum in einer Chicagoer Anwaltskanzlei für den Sohn, nicht dessen Bekanntschaft mit Michelle dort und vielleicht bis heute keinen dunkelhäutigen US-Präsidenten gegeben hätte.
Kurzum: Belafonte hat Geschichte geschrieben, hat der Welt seinen Stempel aufgeprägt, in guten und generell politisch linkslastigen Absichten, und als Entertainer. Da brachte er die Leute zum Lachen, Mitklatschen, Summen, Mitwippen, Nachdenken, und dazu, neue Ufer zu ergründen. Und gerade die Musik, seine Prominenz, Popularität und Connections nutzte er dafür ausgiebig.
Aus Tagelöhner-Verhältnissen und als Spross einer jamaikanisch-schottisch-holländisch-amerikanisch-jüdisch-sephardisch-katholischen Familie mit einem Papa von der Karibikinsel Martinique war Harry wie geschaffen, um zwischen Kulturen zu vermitteln. Eine seiner ersten Ruhmestaten in dieser Dimension: Er verbreitete einen Rhythmus, Tanz und Musikstil, den zu der Zeit kaum jemand außerhalb einiger Karibikinseln kannte: "Calypso". So heißt sein drittes Album, und es ist dasjenige Album, das sich zum ersten Mal mehr als eine Millon Mal verkaufte.
Das Erreichen der Million wird gerne als Kenngröße für Fortschritte in Elektronik und Telekommunikation gewertet, denn in der Regel wird ein Produkt ab diesem Knickpunkt zum Selbstläufer. Beispiel: Es dauerte 29 Jahre, bis es eine Million deutsche Telefonanschlüsse gab, aber nur weitere vier Jahre, bis es 1,5 Millionen waren. Dem Harry verdanken wir mit der gesteigerten Nachfrage an "Calypso", dass die Langspiel-Vinyl als Format das gute alte Schellack endgültig ablöste. Es gibt 15 originale Pressungen von "Calypso" im Frühling 1956: vier Auflagen für den US-Markt, die weiteren für Kanada, Venezuela, Argentinien, Deutschland, Frankreich, Türkei, Südafrika, Indien, Japan, Australien und Neuseeland, 1957 ziehen Italien und Brasilien nach, 1958 Spanien und 1963 Israel. Ein weltweites Ding also, in einer damals noch recht un-globalisierten Zeit. Bis auf die englische Seefahrt und die beiden Weltkriege war vor 1956 kaum etwas so weltweit wie Belafontes LP.
RCA (heute Sony) in Venezuela brachte "Calypso" ohne die bekannteste Harry-Zeile "Matilda, she take me money / and run Venezuela" heraus. Ich beziehe mich in diesem Text auf die französische Pressung mitsamt "Matilda", die 2017 als Re-Print auf Vinyl in Deutschland wieder verfügbar gemacht wurde. Die weitere Tracklist ist überall recht übereinstimmend. Unplugged-Nummern wechseln mit Orchester-Stücken, ein paar von denen platzieren noch einen Chor rundum den Harry herum. Fast alle Stücke hat er selbst geschrieben, in einem Schreib-Tandem mit 'Lord' Irving Burgess. Den kannte er aus einer Zeit, als er regelmäßig in New Yorker Nachtclubs ein paar Groschen dazu verdiente und dort auftrat - seine erste Berührung mit Musik als Beruf. Zwei Nummern sowie besagter "Matilda (Bonus Track)" gehen auf einen gewissen Norman Span zurück.
Ich entdecke mit zehn bei einem Umzug im Keller ein verstaubtes Spulen-Tonbandgerät Marke Grundig von meiner Mutter mit Radio-Mitschnitten, darunter "Matilda, Matilda". Faszinierend, erst mal dieser komische Ton in Mono, diese Musik, die wie in einem Hohlkörper aufgenommen, wie aus einer entrückten Raumkapsel wirkt. Dann dieser Typ, der so seltsam hölzern sing-kläfft und immer wieder "once again now" ruft und seine Musiker anfeuert, den Refrain zu wiederholen. Dazu diese Klopfgeräusche, ein Schlagen ohne das, was wir unter Schlagzeug verstehen. Irgendeine obskure Geschichte im Text: eine Frau, die ihrem Liebhaber sein Gespartes klaut und damit auf Nimmerwiedersehen nach Venezuela durchbrennt. Die Melodie wird mir nach ein paar Tagen zum Ohrwurm, und Harry Belafonte zum allerersten Sänger, von dem ich sofort mehr hören muss. Ich stoße auf "Island In The Sun" in einem Gitarren-Lehrbuch und auf einem Sampler. Meine erste selbst gekaufte CD enthält später zufällig einen Bonus Track, der ein Satire-Cover auf "Day O" ist. Und "Day O", besser bekannt als "Banana Boat Song" ist der Opener von "Calypso". Belafonte wollte irgendwie zu mir, ohne ihn wäre ich jetzt vielleicht Formel 1-Experte oder Umweltaktivist, aber kein Musikfreak. Harry hat mein Leben verändert.
Hat er auch Weichen für die Musikgeschichte gestellt? - Na klar, nichts leichter für ihn als das. "I Do Adore Her" führt die Simplizität von Country-Love-Songs im Verständlichkeitsgrad für die Dorfkneipen-Jukebox vor. Belafonte zeigt sich nicht mal als begnadeter Vokalist, keinesfalls ein Stimmakrobat; eher knapp nach dem Stimmbruch, auch nicht mal besonders sauber, eher brüchig und kantig intoniert, was ihn eher zum Typus Volkssänger statt Goldkehlchen macht. Einem, dessen selbstverständliches Auftreten mehr Wirkung erzielte als die gesangliche Technik.
"Jamaice Farewell" verhandelt das Lebensgefühl der Heimat von Harrys Vater. "When I reach Jamaica, have a little girl in Kingston Town", verrät er zu einem akustischen Musikformat, das nah an Mento ist, einem Reggae-Vorläufer. "Ackee, roasted fish and rice" werden im Song verzehrt, wobei Ackee eine Frucht mit dem Geschmack von Artischocken und der Konsistenz von Rührei ist. Belafonte wählt hier sprachlich Patois, obwohl er nur kurz auf Jamaika lebte. Auch der stürmische "The Jack-Ass Song" kennt Bezüge zum ruralen Leben. Die fiepsig hoch geblasene Klarinette kommentiert zum Beispiel einen Esel etc, Tinnitus-artige, quasi aus dem letzten Land-Loch gepiepte Töne, aber durchaus mit der Würde und Erhabenheit des Triller-Tons.
"Dolly Dawn" nutzt einfach akustische Gitarre, immer wieder pfeift Belafonte auf der LP; sehr schlicht. Es beteiligt sich Frantz Casseus, ein Haitianer, er war der Gitarrist. "Come Back Liza", "wipe the tear from the eye" wählt Szenen aus dem Leben geschnitten, im Kontext "standing there in the marketplace", schildert ein ländliches 'Jeder-kennt-jeden'. Nach und nach erschließt sich die Geschichte dahinter, hier vermisst ein Mann seine Ex-Freundin, und scheinbar geht's darum, sie zu trösten, um ihre Tränen, am Ende kehrt sich das um in "wipe a tear from mi eye". Nun verzehrt er selbst sich vor Sehnsucht und projiziert seine eigenen Gefühle auf Lizas Stimmung.
Die Darstellung menschlicher Gefühle und das Schreiben oder Co-Writing einprägsamer kurzer Tracks waren eher seine Stärken, weniger der Vokal-Vortrag. Eigentlich war er Schauspielschüler. Übrigens nicht an irgendeiner Institution, sondern beim renommierten Erwin Piscator. Aus eigenen TV-Show, vergleichbar später bei uns z.B. Rudi Carrell, & Co. in Europa, entwickelte sich die multiple Rolle als Moderator mit Show-Einlagen und Gesangsauftritten. Das Debüt-Album enthielt vor allem Songs aus der Show, Traditionals, Covers, die Nachfolge-LP auch nur Covers, geübt hatte er das Singen in Nachtclubs im Big Apple, darunter dem Village Vanguard mit 123 Sitzplätzen in der Künstler-Szene von Greenwich Village am Rande Manhattans.
Generell hatte der in New York aufgewachsene Belafonte eine Vorliebe für Inseln in der Karibik, womöglich fürs Wasser: Sein Vater war Matrose. Im Anschluss ans "Calypso"-Album spielte Harry dank seiner neuen Popstar-Popularität in einem Film namens "Island In The Sun" die Hauptrolle, einer verschachtelten Romeo- und Julia-Story über Hautfarben, mit mehreren (verhinderten) Liebespaaren und Haupt-Handlungssträngen, gedreht auf Barbados und Grenada. Seine 'weiße' Pendant-Schauspielerin für die Frau, in die seine Filmfigur verliebt ist, erhielt danach Gewaltandrohungen durch den Ku-Klux Klan. Auf der anderen Seite weckten oder nährten solche Ereignisse in Harry ein langes Engagement gegen Rassismus.
Auch bei "Day O" handelt es sich um solch ein "ein Lied über Kampf, über Schwarze Leute in einem kolonialisierten Leben, die die am wenigsten angesehene Arbeit machen", erläuterte er in einem Interview mit dem Sender NPR. Im Mittelpunkt äußern sich die Hafenarbeiter, die nachts Bananen auf Schiffe laden. "Six foot, seven foot, eight foot bunch" - diese Zeile wurde zum Titel des Lil Wayne-Songs auf dem Album "Tha Carter IV". Sie ist die Zeile, der Slogan, der eine faire Abrechnung für die harte Arbeit fordert. "Come mista tally man, tally me banana", heißt das im Slang. "Star O" ist die Reprise auf "Day O" - "Banana sweet, woman sweet, she take your money", noch mal Patois-Grammatik.
"Man Smart (Woman Smarter)" - ausgerechnet Grateful Dead coverten das die letzten 15 Jahre ihres Bestehens stets auf Tour. "Will His Love Be Like His Rum?" wieder mit einem "everybody!"-Shout-Out, wie in "Matilda", etwas animateurhaft. In England, der Zentrale des bröckelnden Kolonialismus, war zu jener Zeit der Skiffle als vergleichbare Stilrichtung aktuell.
Bei vielen weiteren Hits nach dieser dritten LP setzte er sein Prinzip fort: Die Lieder uferten nie aus, hatten ein klares Bild, eine Szene vor Augen und funktionieren nach dem Motto: Die einfachsten Ideen sind oft die besten. Auch am anderen Ende seiner Diskographie, beim letzten Studioalbum, legte Harry Großes vor. "Paradise In Gazankulu" nutzt die Musik als Transportmittel, um das schockierende System der Apartheid Südafrikas mit seinem Namen der ganzen Welt zu vermitteln. 1988 machte er somit noch mal deutlich, dass seine Lieder die Welt ein Stück besser machen sollten und nah am alltäglichen Struggle der Leute sind. Gewiss, in den '80ern krallte er sich damit ein 'Mode'thema, aber glaubhaft. Trotz seiner Verwurzelung im amerikanischen Folk und im karibischen Calypso gelang es ihm immer wieder, sich davon frei zu machen.
Swing, Gospel, Folk, im Laufe der Jahre verleibte er sich so einiges ein. Für "Calypso" und generell für karibische Rhythmen wie später Son und Ska schlug er eine Schneise auf dem Weltmarkt. Sein Engagement gegen A wie Apartheid oder Atomkraft, B wie Bushs Außenpolitik, Bigotterie und für Bürgerrechte und für die Bronx als kulturell spannendem Schauplatz, könnte man alphabetisch so fortsetzen, beim C muss man auf jeden Fall beim Calypso Halt machen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
2 Kommentare mit einer Antwort
Ich Denke spätestens jetzt hätte Harry Belafonte ein Meilenstein verdient nicht nur wegen der traurigen Nachricht.
Es geht also um das Album Calypso von Harry Belafonte.
Jeude ftw!
Hab mir das Album infolge der Berichterstattung rund um seinen Tod und alles davor als Teil einer wunderbar ramschigen 5 CD-Collection geholt, leider ohne Matilda.
Day O ist für mich im Grunde das perfekte Volkslied, extrem eingängig, inhaltlich schlicht und von den Kleinen für die Kleinen, trotzdem mit einer gewissen Eleganz, die von Mehrstimmigkeit profitiert. In Summe zeitlos und selbst durch Zuckowski nicht (ganz) kaputt zu kriegen. Die Jedermann-Parodie finde ich auch ganz charmant (ist das die von besagter erster CD, HiPhi?), aber am besten ist natürliche der Opener hier, das gefühlte Original.
Die anderen Titel sind überwiegend hübsch zu hören, haben die Kraft des Openers aber rückblickend mMn nicht. Den Credits bei wiki zufolge hat Belafonte neben besagten Auftakt und Reprise übrigens "nur" an der Hochzeitsnummer mitgeschrieben.
So oder so aber beeindruckender Typ. Wens interessiert, noch eine gute Woche ist diese Doku über sein Leben auf arte verfügbar:
https://www.arte.tv/de/videos/103003-000-A…