laut.de-Kritik

Nicht mal Ambient bremst die polyphone Spacerock-Rakete.

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Die verqualmte Spelunke, in der dieses Live-Album wohl entstand, kann man sich gut vorstellen. Die Space-Rock-Pioniere Hawkwind klingen auf "We Are Looking On You" nach Underground, subversiv und in Trance. Der Drive der mitunter sehr langen Versionen kommt druckvoll. Bis hart an die Übersteuerung reizt die Uralt-Band schon im über zehn Minuten säbelnden Einstieg "Magnu" ihre elegischen Orgel-Metamorphosen aus und jagt während eines super langen und mega kurzweiligen Instrumental-Parts allerlei Special Effects durch ihr polyphones Klangkonstrukt, zum Beispiel Sound gewordene Stroboskop-Blitze. Das Hörerlebnis wirkt, als würde man ein Bob-Rennen fahren. Mit jeder Kurvenlage treibt ein neuer Tempo-Impuls an, Stopps sind nicht vorgesehen.

Hawkwind sehen sich in ihrem 53. Dienstjahr wenigen Erben gegenüber. Cornershop mag man entfernt dazu zählen, wenn es in die wuchtvollen psychedelischen Verfremdungen mancher Verstärker-Töne geht. Wo aber bei den Nachfahren Melodie, Format und Lieblichkeit regieren, entscheiden sich Hawkwind lieber für bewusst unreine Töne anstatt saubere Melodien und für zerfransende Formen ohne klare Song-Anfänge und Enden: ein bisschen Free Jazz im Heavy-Acid-Prog. Diverse Tasten-Freak-Instrumente kommen ihnen hier zuhilfe, inklusive dem gerade 100 gewordenen Theremin, einem auf Wärme- und Kältereize reagierendes Prä-Keyboard, und Timothy a.k.a. 'Thighpaulsandra', dem neuen dritten Tastenspieler. In manchen Abschnitten überlagern verschiedenste Synthesizer-Spuren einander und bauen einzigartige tosende Klang-Tornados auf. Hier unterscheiden sich Hawkwind bis heute vom Mainstream des Proggens, indem sie E-Gitarren-Soli nie zum tragenden Element, sondern zu einem untergeordneten unter vielen machten.

Mit Thighpaulsandras Beitritt (parallel klimpert er für Tim Burgess) und dem neuen Bassisten Doug startete Frontmann Dave Brock - der mit dem Schnauzbart auf den Fotos - mitten in ein neues Band-Kapitel. 2021 erschien "Somnia", ein bündiges Konzeptalbum über das Reich der Träume, mit dem sich das einzige verbliebene Gründungsmitglied selbst übertraf. Die Studioplatte "Somnia" wirkte wie eine auf CD gebannte Live-Session, spontan, voller Spieltrieb, wie geschaffen für die Bühne.

Seither finden mehr Ambient-Elemente (z.B. die Interlude "Peace") und Noise-Zwischentöne statt. Verzichten muss man aufs Cello, dessen Mr Dibs die Band im Streit verlassen hat. Das Singen hatte man bei Hawkwind schon lange degradiert. Jetzt macht es Dave Brock so nebenbei, wenn er in den Songs mal dazu kommt; allerdings hört man es im lärmigen Gewusel kaum. Das Verwaschene seiner dünnen Stimme im Umgebungskrach passt und hat etwas kultig Ungefähres.

Man muss auch nicht immer singen. In "Cave Of Phantom Dreams" reicht das Sprechen vor dem Hintergrund eiernder ausgedehnter Drone-Töne, und in "Unsomnia" genügt eine Sprech-Singmischung, die sich minimalen Tonsprüngen verdankt. Und einmal schreit Brock sogar zeternd los, verkörpert Angstschreie im Schlaf und wiederholt typische Sätze des Unterbewusstseins, "ah, no, they coming to get me-e-e-e-e-e". Im Lauterwerden hält er noch ein paar Töne, dann wird Schluchz-Brüllen daraus, zusammen mit der intergalaktischen Musik hat es etwas von Theater und Installations-Kunst. Man kann sich gut die Light-Show dazu vorstellen und vielleicht Leute in Mondanzügen, irgendwas Abstraktes. Das Drama "Unsomnia" in mehreren Akten endet in einer Minute lustigem Glitch-Tonpuzzle, Hawkwind beim Fremdgehen in der elektronischen Musik.

Fast 50 Kollegen umgaben den Chef der Combo im Lauf der Jahre. Das heißt im Schnitt ein Wechsel pro Jahr; damit stellen Hawkwind sogar Wishbone Ash und Pere Ubu weit in den Schatten, die zusammen auf so viele Umbesetzungen kommen. Der Qualität schadet es nicht. Eher erfrischt der letzte Wechsel und sorgt für überraschende Vielfalt im Sound, zumal live auch viele alte Songs an Bord sind und zur Setlist von "We Are Looking On You" gehören: Dazu zählen kurze Ambient-Drum'n'Bass-Strukturen wie in den Intros zu "Uncle Sam's On Mars" und zum Klassiker "Spirit Of The Age". Als Headbang-Highlight rotzt die Band vor allem das geradlinige "Right To Decide" mit der eingängigen Hook "you can't do this / you can't do that" herunter und spielt erfrischend kopfbefreit auf. Die Keyboards hören sich nach Science Fiction und Soundtracks der '70er an, mit einem Schuss Manfred Mann's Earth Band. Hawkwind kreisen kurz auf Nostalgie-Trip. Schon einmal hatten Hawkwind eine elektroaffine Phase, 1992 auf "Electric Tepee", daraus stammt der Track; in dieser Live-Fassung steht er Steppenwolf aber näher als den '90ern.

Die anstehende Vinyl-Veröffentlichung (Mitte Dezember) trennt in die Doppel-LP "We Are Looking In On You" mit Mitschnitten von 2021 und eine extra-Sammler-Scheibe mit dem Titel "We Are Looking In On You Too", auf der sich die letzten sechs Tracks versammeln - also zwei verschiedene Releases. Die bereits erhältliche Doppel-CD umfasst indes alle Aufnahmen.

Besagte sechs Extra-Stücke muss man nicht dringend haben, sie legen aber ganz gut den Blick auf andere Facetten der Band frei. Das schwachbrüstige und sich in die Länge ziehende "Born To Go" zeigt das ziellose Gniedeln, das bei den Spacerockern immer mal mit rein rutscht. Für Kraut-Freaks von dezenter Relevanz. Das introspektive "Star Explorer", strukturell ein Stück Minimal-Ambient im Space-Prog-Gewand, mit stetem Auf-der-Stelle-Treten, entbehrt an Reizen und ist mehr Jam als Song, zeigt aber wie Hawkwind ticken und mancher Song entsteht. Beim weitaus melodiöseren "Space Is Deep" hat die Aufnahme dann nur Bootleg-Qualität. "It's Not Unusual" hört sich zwar noch verwaschener, fragmentarisch geschnitten, aber dafür wärmer an und gibt einen guten und seltenen Eindruck von der Interaktion zwischen Publikum und Band. Außerdem ist die Nummer ein rares Beispiel einer Acoustic Version, so wie auch bei "Hurry On Sundown" ein akustisches Intro ertönt.

Absolute Highlights finden sich aber nur auf der 2021er-Tour: "Neurons" verklangbildlicht die Reizübertragung im Nervensystem mit Signalen in Lichtgeschwindigkeit, blitzschnell wird eine Strophe vorgetragen, rundherum verwäscht und überspült dichter Instrumentalklang die Worte, insgesamt eine Nummer, die durchbrettert und keine Gedankenpausen kennt. Auch "Brainstorm" ist wirklich ein Gehirnsturm, "Levitation" super eingängig, und "The Watcher" zischt als hypnotischer Diamant ab wie eine Space-Rakete.

Trackliste

CD1

  1. 1. Magnu
  2. 2. Cave Of Phantom Dreams
  3. 3. Unsomnia
  4. 4. Uncle Sam's On Mars
  5. 5. Usb1
  6. 6. Spirit Of The Age
  7. 7. It's Only A Dream
  8. 8. Peace
  9. 9. Right To Decide

CD2

  1. 1. Levitation
  2. 2. Brainstorm
  3. 3. Neurons
  4. 4. In The Beginning
  5. 5. Hurry On Sundown
  6. 6. Born To Go
  7. 7. Star Explorer
  8. 8. Space Is Deep
  9. 9. It's Not Unusual
  10. 10. The Watcher

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