laut.de-Kritik

Fröhliche Trotzreaktion mit wundervoll wirrem Neo-Soul.

Review von

Die Auszeit hat ein Ende. Sechs lange Jahre liegt das letzte Hiatus Kaiyote-Album "Choose Your Weapon" zurück. Vier Jahre der Solo-Ausflug von Sängerin, Songwriterin und Gitarristin Naomi 'Nai Palm' Saalfield ("Needle Paw"). Dunkle Jahre, in denen die Sängerin mit Brustkrebs zu kämpfen hatte. Der Krankheit, an die sie ihre Mutter als Kind verlor. Jahre, in denen sie das Leben neu bewertete.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, mit einer so einschneidenden Krankheit umzugehen. Jede:r muss den eigenen Weg finden. Bei Musiker:innen endet dies meist in dunklen Selbstreflexionen über das Leben und den Tod oder fröhlichen Trotzreaktionen. Nai Palm entschied sich auf "Mood Valiant" zusammen mit dem Rest von Hiatus Kaiyote für letzteres.

Bisher war die mittlerweile bei Brainfeeder gelandete Band auf Albumlänge eine kleine Wundertüte. Die Brüche zwischen den einzelnen Songs konnten reichlich ruppig ausfallen. Mit dem dritten Longplayer ändert sich dies. Hier bleibt alles im Fluss, in einer eigenen, in sich geschlossenen Welt. Die Erkenntnis, dass es nicht zwangsweise 18 Tracks braucht, sondern das auch 12 reichen, könnte dabei durchaus hilfreich gewesen sein. Trotzdem verlieren Hiatus Kaiyote nichts von ihrer Virtuosität. Sie bleiben neugierig, doch der klare Fokus liegt dabei auf wundervoll wirrem Neo-Soul.

Die hinzu gekommenen lateinamerikanischen Einflüsse bringen eine neue Frische mit, die der brasilianische Komponist Arthur Verocai zeitweise mit Streichern und Bläsern verfeinert. (Kleiner Tipp zwischendurch: Ruhig mal in dessen Album "Arthur Verocai" von 1972 hören. Es lohnt sich.) Bassist Paul Bender und Schlagzeuger Perrin Moss leisten als Rhythmusgruppe außergewöhnliche Arbeit. Kein Break und Rhythmus ist vor ihnen sicher.

Zwar versteht Nai Palm die hohe Kunst des sich Zurückziehens und anderen ihren Raum zu lassen, doch die Hauptrolle auf "Mood Valiant" geht trotzdem klar an sie. Diese verdient sie sich alleine schon mit "Red Room". Hier arbeitet sie mehrschichtig, legt eine Oktave über die nächste. In der oberen bricht ihre Stimme bewusst ins Heisere, was sie gekonnt als Stilmittel einsetzt. Dazu ein umgarnender Groove, warm wie die liebste Kuscheldecke.

"Rose Water" lebt vom stotternden Schlagzeug, einem hypnotischen Piano-Loop und fröhlich flötenden Flöten. Schon zu Beginn von "Chivalry Is Not Dead" erinnert Simon Mavins Syntheziser deutlich an die frühen Moloko. Der danach einsetzende kantige und kräftige Rhythmus erledigt den Rest. Palm singt dabei über die Kopulation von Seepferdchen, Kolibris und Leopardenschnecken: "If I were a leopard slug, I would reach out with the blue rose of ours, wrapping myself around you."

"Get Sun" beginnt wie ein verlorener Prince-Track, bekommt aber auch dank Verocais lebendigem Arrangement schnell eine ganz eigene Farbe. Ein an sich schon großartiges Stück, findet durch die Streicher und Bläser Veredelung. Dabei setzt er diese so geschickt ein, dass sie das Lied nie überlasten und dieses zusammenbricht. Textlich setzt sich die Melbourner-Band mit dem Klimawandel auseinander, der bei den Bränden in Australien vor ihrer Haustür deutlich sein Gesicht zeigte. "Surface, will it suffice? / The clay grows dry, but you keep your borders guarded / And the heights of which you own / Feed me rhinestones / Bowing into the void." Die letzte Minute führt "Get Sun" dann nach und nach in den Regenwald. Als wollten uns Hiatus Kaiyote daran erinnern, was wir dabei sind zu verlieren.

Ein wenig verspielt das Album die Chance darauf, gleich darauf den Closer "Blood And Marrow" folgen zu lassen. Als hätten sich Hiatus Kaiyote in der Wildnis verloren, spielt der Studiotrack mit allerlei Naturgeräuschen. Ein ständiges "Yip" begleitet diese reine Studio-Phantasie, in das Nai Palm schnell einsteigt und im Duett singt. "Duh-duh, you, duh-duh, you". Zu der Entstehung des Stücks erinnert sie sich: "Das war nach der Operation. Ich habe meine Brust verloren. Vier Monate später verlor ich meinen Papagei Charlie, der wie mein Vogelkind war. Charlie zu verlieren, ich trauerte mehr um ihn als um meinen Busen. Bevor er starb, haben wir alle Disney-Filme zusammen gesehen. Das ist der Grund, warum der Song diese Art von Disney-Klangpalette hat.

Nach der Auszeit zeigt sich die Band auf dem nach den beiden Chrysler Valiant Kombis von Palms Mutter benannten Album voller Energie. Ihnen gelingt das Kunststück, gleichzeitig vertrackt zu bleiben, aber dennoch so wahr und zugänglich wie nie zuvor zu klingen. Eine Balance, die nur wenigen Bands gelingt.

Trackliste

  1. 1. Flight Of The Tiger Lily
  2. 2. Sip Into Something Soft
  3. 3. Chivalry Is Not Dead
  4. 4. And We Go Gentle
  5. 5. Get Sun
  6. 6. All The Words We Don't Say
  7. 7. Hush Rattle
  8. 8. Rose Water
  9. 9. Red Room
  10. 10. Sparkle Tape Break Up
  11. 11. Stone Or Lavender
  12. 12. Blood And Marrow

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3 Kommentare mit 9 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Au, Mann... Die Platte ist verdammt gut. Nur die völlig unpersönliche, totgehörte, Beyoncé-für-Arme-mäßige Weise ihres Gesangs ist ein totaler Abturner. Hoffentlich kann ich beizeiten noch daran vorbeihören, denn die Songs, Arrangements und die Produktion sind crémig.

    • Vor 2 Jahren

      Fo real? Damn, dann muss ich ein Ohr riskieren wie beim schlechten Friseur. Vllt kann man die Penunze Knowles ausblenden.

    • Vor 2 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 2 Jahren

      Wenn Du halbwegs was mit modernem, verspielt arrangiertem Soul/R'n'B/Pop anfangen kannst, ja!
      Mich persönlich nerven diese Trällerorgien voller Gesangsübungen und -Angeberei schon seit 20 Jahren. Ist das Pendant zu zwanghaftem, gefühllosem Gitarrengegniedel, was ja ebenfalls von zehntausenden Insta-Accounts zelebriert wird. Seltsam, daß dieser Stil nach endlos vielen Castingshows nicht längst obsolet ist. Wenn Du in der Lage bist, dabei noch irgendetwas zu empfinden, wirste vermutlich nicht solche Probleme damit haben wie ich.

    • Vor 2 Jahren

      Diese Art des Gesangs hat mich auch bisher abgeschreckt, das erzeugt ein ziemlich seltsames Gefühl, da der Rest eigentlich exakt nach meinem Geschmack ist. Werd trotzdem auch mal reinhören.

    • Vor 2 Jahren

      Beyoncé, really? Die höre ich da nicht raus, viel eher musste ich stark an Aaliyah denken. Beängstigend fast schon wie ähnlich die klingen, was ich aber absolut geil finde. Aber ist sicherlich Geschmackssache, kann ich schon nachvollziehen.

    • Vor 2 Jahren

      "Wenn Du halbwegs was mit modernem, verspielt arrangiertem Soul/R'n'B/Pop anfangen kannst, ja!"

      Dann kann ich damit wohl eher wenig anfangen, finde das Album recht anstrengend deswegen. Beyonce höre ich da allerdings ebenso nicht heraus.

    • Vor 2 Jahren

      Okay. Aaliyah für Arme ist auch gut. Eben dieser gefühllose Casting-Show-Standard zwischen Gesangsprotz und abgestochenem Schwein.

    • Vor 2 Jahren

      Einigen wir uns doch drauf dass es Geschmackssache ist. Denn auch wenns für dich nach seelenloser Vokalakrobatik klingt, ist es trotzdem extremst anspruchsvoll und wäre wohl von kaum einer der zahllosen Castingshow-Sängerinnen zu wuppen gewesen.

    • Vor 2 Jahren

      Keine Frage, daß das anspruchsvoll ist. Ich will aber kein Kunstturnen bestaunen, sondern bewegt werden. Und richtig, da sind wir bei der Geschmacksfrage.

  • Vor 2 Jahren

    Ey, ich hab vor nicht mal zwei Monaten völlig ungeniert Singles von Sean Paul, Destiny's Child UND den Pussycat Dolls in einen der Tanzblöcke von nem Mixset geballert...

    ...hätte selber nicht gedacht, dass ich so nen Punkt mal erreiche, aber hier sind wir jetzt. Will sagen: Ich denke, ich bin so weit.

    So bring it on!

  • Vor 2 Jahren

    What the fuck. Was ist das für krankgeile Mucke? Danke Sven für die Rezi!