laut.de-Kritik

Große Verletzlichkeit mit eingebautem Stinkefinger.

Review von

1994: Der erste Artikel, den ich für die Schülerzeitung geschrieben habe, war ein offener Brief an Courtney Love. Es wurde eine Abhandlung über die Despektierlichkeit und Distanzlosigkeit, mit der die Medien ihr nach Kurt Cobains Tod begegneten. Ich verteufelte, was ich später selber so oft tun sollte: Künstler einfach und ungefragt bei ihrem Vornamen zu nennen. So zu tun, als würde man sie kennen und verstehen.

Denn wie bitteschön sollte man das verstörte und zugleich verstörende, amerikanische Riot Grrrl kurz nach dem Selbstmord ihres Mannes - und Vater ihres Kindes - verstehen? Noch dazu als Journalist, bekanntlich meist ein Mann bürgerlichen Hintergrunds. Der nicht wie Miss Love einen abenteuerlichen Lebensweg zwischen Urschei-Therapeutinnen-Mutter und Strip-Club-Erfahrung hinter sich gebracht hat.

Und doch konnte ich als 15-jährige bürgerliche Schülerin keine Musik finden, die mich so sehr mitgerissen und berührt hat wie die von Hole. Sie drückte eine Wut aus, die ich in mir gar nicht entdecken konnte, mir aber zutiefst imponierte. In meinen Augen war niemand imstande, so unverschämt beeindruckend zu schreien und so zart und verletzlich zu leiden wie Courtney Love. Und doch war mir der Kult um ihre Person fremd. Kill Your Idols und so ...

Genau in diese Zeit fiel das zweite Album der Band. April 1994. "Live Through This" erschien zum persönlich denkbar ungünstigsten, kommerziell aber nicht besser ausschlachtbaren Zeitpunkt. Keine vier Tage war es her, dass man Kurt Cobain fand, nachdem er sein Leben mit dem Schuss aus einer Schrotflinte beendet hatte und Courtney bot tränenerstickt seinen Abschiedsbrief vor der Weltöffentlichkeit dar. Ein perfektes Theater, wäre es nicht ihre Realität.

"I want to be the girl with the most cake (...) Someday you will ache like I ache", allein die wohl bekannteste Single "Doll Parts" bot mehr Parolen als komplette Alben anderer Bands. Verletzlichkeit und gleichzeitig den entgegen geschleuderten Stinkefinger zeigen, gelang niemandem so gut wie Courtney Love. Der volle, drückende Sound des Gitarren-Nerds Eric Erlandson tat sein Übriges. Erlandson ist aufgeräumt genug, um zu wissen, welche Grenzen ein Song braucht, wie man die feine Linie zwischen Pop-Melodien, Rock-Sound und Punk-Attitüde trifft: Emotionaler und facettenreicher kann Musik kaum sein.

Meist hat dies jedoch zur Folge, dass der Zauber, den dieses psychologisch-musikalische Gesamtkunstwerk auslöst, mit den Jahren verblasst. Man schaut zurück und kann sich kaum an die Wallungen erinnern, die ein Album ein halbes Leben zuvor in einem ausgelöst hat. Nicht so bei "Live Through This". "Asking For It" und "Softer Softest" bringen mich noch heute an den schmalen Grat zwischen wohliger Melancholie und dunkler Depression. Vieles verliert über die Jahre an Tiefe und damit auch an Bedeutung. Doch "Life Through This" tut immer noch dort weh, wo es schon immer am tiefsten stach.

2013: Liebe Courtney, trotz Intim-Rasuren während eines Interviews, Twitter-Fehden mit der eigenen Tochter und lächerlichen Grabenkämpfen mit Ex-Nirvana-Mitgliedern. Ich bin dir für immer dankbar. Für deine Musik und dafür, dass du als - wenn auch unfreiwilliges - Role Model der Riot Grrrls gezeigt hast, wie intelligent sich Punk als Frau leben lässt. "Watch me break and watch me burn". Wobei brennen ja nicht immer verbrennen bedeuten muss.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Violet
  2. 2. Miss World
  3. 3. Plump
  4. 4. Asking For It
  5. 5. Jennifer's Body
  6. 6. Doll Parts
  7. 7. Credit In The Straight World
  8. 8. Softer, Softest
  9. 9. She Walks On Me
  10. 10. I Think That I Would Die
  11. 11. Gutless
  12. 12. Rock Star

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